Nein, den üblichen Weg geht Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt nicht mit dem „Tatort – Preis des Lebens“. Die Täter sind schnell bekannt, auch ihr Motiv. Das kennen auch die Ermittler. Nur, überführen müssen sie die Mörder! Und eine weitere geplante Tat verhindern. Eine clevere, geschickt konstruierte und stark psychologisierende Story hat der preisgekrönte Autor (Grimme-Preise für „Mörder auf Amrum“ & „Mord in Eberswalde“) und Schöpfer der Stuttgart-Cops Lannert und Bootz hier geschrieben. Und er hebt – wie kürzlich übrigens auch der Schweizer „Tatort: Ihr werdet gerichtet“ – die Grenzen zwischen Gut und Böse auf. Denn was, wenn die Guten aus erklärbaren Motiven böse sind, und die Bösen zwar nicht gut, aber in die Opferrolle rücken? Schmidt spielt mit den Rollen in seinem ebenso packenden wie bewegenden Rache-Psycho-Thriller. Klar, die Kommissare gehören zu den Guten, aber sie – vor allem Sebastian Bootz – geraten in einen moralischen Zwiespalt. Darf ich einen Menschen opfern, um einen anderen Menschen zu retten? Wer gibt mir das Recht zu entscheiden? Und was, wenn es das eigene Kind ist, das gerettet werden kann? Dieses Dilemma und die Frage, ob jedes Leben gleich viel wert ist, darum dreht sich dieser 2015er-“Tatort“ aus Stuttgart.
Foto: SWR / Stephanie Schweigert
Ein Sexualverbrecher (David Bredin) wird nach verbüßter Strafe aus der Haft entlassen, steigt zu einer Frau ins Auto. Kurz darauf wird er von Frank (Robert Hunger-Bühler) und Simone Mendt (Michaela Caspar) in deren Haus gefoltert und dann getötet. Er ist der Mörder ihrer Tochter Mareike. Vorher hat er dem Ehepaar noch den Namen des zweiten Täters verraten, der nie gefasst wurde. Als die Leiche des Ermordeten im Müll entdeckt wird, ist es ein Fall für die Stuttgarter Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare). Denen sind Täter und Motiv schnell klar, allein, es fehlen die Beweise. Die Mendts streiten die Tat ab. Und so beginnt ein Wettlauf zwischen den Ermittlern und dem rachsüchtigen Paar um den zweiten Täter. Die Polizisten finden ihn zuerst, nehmen ihn in Schutzhaft. Doch dann stellt Bootz fest, dass seine Tochter Maja verschwunden ist. Sie wurde gekidnappt – von den Mendts. Die wollen sie austauschen… gegen den Mann, der mitschuldig ist am Tod ihrer geliebten Tochter…. Nicht die Täter sind Holger Karsten Schmidt wichtig, sie sind Staffage, Mittel zum Zweck. Es geht um die Angehörigen von Opfern – die Eltern, deren Tochter ermordet wurde, den Vater, dessen Kind entführt wurde, den Mann, der seine Familie verloren hat. Denn auch Lannert weiß, was Verlust bedeutet, er begleitet ihn seit dem ersten Fall. Der nunmehr 17. Stuttgart-“Tatort“ vereinigt die Themen Angst, Verlust, Trauma und Rache. Und ist dabei konsequent – und auch kompromisslos. Es ist ein Krimi, der einem nahe geht, der einem einiges abverlangt, ja, den man aushalten muss. Es gibt nur Verlierer, nur Leidtragende.
Foto: SWR / Stephanie Schweigert
Roland Suso Richter, oft mit historischen Großprojekten („Dresden“, „Mogadischu“, „Der Tunnel“, „Das Wunder von Berlin“, „Die Spiegel-Affäre“) beschäftigt, hat hier seinen dritten „Tatort“ nach „Schwarze Löwen, weiße Tiger“ (mit Maria Furtwängler) und „Spiel auf Zeit“ (ebenfalls mit dem Duo Richy Müller/Felix Klare) inszeniert. Es ist ein Film der leisen Töne, wenig Action, viel Tiefe in den tragenden Figuren. Ein Krimi, der manchmal gar nicht viele Worte braucht, einfach nur den Blick auf die Gesichter der Akteure richtet. Wichtig für das Gelingen des Films ist die Besetzung der Rollen der Wendts. Michaela Casper und Robert Hunger-Bühler spielen sie. Man hätte die Rollen auch sehr prominent besetzen können, man hat sie lieber sehr gut besetzt. Das war klug. Vor allem Hunger-Bühler, der zwar auch viel fürs Kino und TV dreht, aber in erster Linie ein herausragender Theatermime ist, setzt Akzente, spielt den Frank in all seiner Verletztheit und Rachsucht zurückgenommen und sensibel.
Drehbuchautor Schmidt und Regisseur Richter setzen die Kommissare fast die gesamte Dauer unter Druck. Sie müssen eintauchen in die Psyche eines rachsüchtigen Paares, einen Mörder suchen, ein weiteres Verbrechen verhindern. Und Bootz gerät in einen Kampf mit sich selbst, mit den Kollegen und mit zu allem entschlossenen Tätern, die das Leben seiner Tochter bedrohen und für die ihr eigenes Leben längst sinnlos geworden ist. Die Kommissare müssen eine Lösung finden, dabei steht auch ihr Kollegialität als Polizisten und ihre Freundschaft auf dem Spiel. Reibung zwischen beiden gab es schon desöfteren im Stuttgart-“Tatort“, hier bekommt das Verhältnis aber noch mehr Intensität. Es geht um Leben und Tod. Ein Drama um Rache und Moral. Ein gelungener „Tatort“, der nachhallt. (Text-Stand: 29.9.2015)