Als Western könnte dieser Film den Titel „Der Wirt, den sie Sheriff nannten“ tragen: Hans Schilling war ein Mann, der sich gern eingemischt hat. Die respektvolle Bezeichnung Sheriff hat mit seiner im Westernstil eingerichteten Vorortkneipe „Bei Hanne und Hans“ zu tun. Nun liegt er mit Kopfschuss tot hinter der Theke; anscheinend hat er sich einmal zu oft eingemischt. Ins Visier von Lena Odenthal und Johanna Stern (Ulrike Folkerts, Lisa Bitter) geraten recht bald drei Teenager: Samir (Mohamed Issa) hat das Opfer unmittelbar nach der Tat gefunden; seltsam nur, dass der Anruf bei der Polizei erst zehn Minuten später erfolgt ist, denn der Schuss ist exakt mit Beginn der 8-Uhr-Nachrichten gefallen, wie eine Nachbarin versichert. Noch merkwürdiger ist allerdings Samirs Verhältnis zu dem jungen Pärchen, dem der „Tatort“ aus Ludwigshafen seinen Titel verdankt: Leon und Vanessa (Michelangelo Fortuzzi, Lena Urzendowsky) sind unzertrennlich und deshalb als „Leonessa“ bekannt; oder auch spöttisch als „Brangelina für Arme“. Die Ermittlerinnen werden nicht schlau aus dieser Menage á trois: Samir ist offensichtlich in Vanessa verliebt, deren Beziehung zu Leon wiederum eher geschäftlicher als intimer Natur zu sein scheint. Das 15jährige Mädchen stammt aus bescheidenem Elternhaus, trägt jedoch erstaunlich teure Klamotten. Aber was, fragen sich nicht nur Odenthal und Stern, hat das alles mit dem toten Hans zu tun?
„Leonessa“ ist vordergründig ein klassischer „Tatort“: ein Mord, viele Befragungen, die Aufklärung. Tatsächlich erzählt Wolfgang Stauch, der für den SWR auch die beiden sehenswerten „Emma nach Mitternacht“-Filme mit Katja Riemann und zuletzt „Anne und der Tod“ (ein „Tatort“ aus Stuttgart) geschrieben hat, ein Jugenddrama, eine Sozialstudie über Kinder aus kaputten Elternhäusern, das auch auf dem ARD-Sendeplatz am Mittwoch vorstellbar wäre. Weil der Film aber die Krimi-Erwartungen bedienen muss, bleibt wenig Zeit, um sich näher mit den Erzeugern zu befassen: hier eine überforderte Mutter und ein ignoranter Vater, dort eine abgestürzte promovierte Literaturwissenschaftlerin, deren Lektüre nur noch aus den Etiketten hochprozentiger Alkoholika besteht. Diese Rolle ist zwar mit Karoline Eichhorn vergleichsweise prominent besetzt, bleibt aber trotzdem eine Randfigur. Spannung im Sinn von Nervenkitzel ist bei einem Krimi-Drama zwar weniger zu erwarten, kommt dann aber gegen Ende auf, als die Kommissarinnen einen weiteren Todesfall verhindern wollen.
Sehenswert ist „Leonessa“ vor allem wegen des Titelpaars. Michelangelo Fortuzzi verkörpert den fatalistischen Leon konsequent nach dem Motto „Verschwende deine Jugend“. Noch eindrucksvoller ist Lena Urzendowsky, die dank blondiertem Bubikopf im Vergleich zu ihren ähnlich einprägsamen Auftritten in „Der große Rudolph“, zwei Usedom-Krimis und vor allem „Das weiße Kaninchen“ kaum wiederzuerkennen ist. Regisseurin Connie Walther steht ohnehin für exzellente Leistungen ihrer Darsteller. Das galt schon für ihr Debüt „Das erste Mal“ mit Lavinia Wilson (1998, ebenfalls für den SWR) oder für das ADHS-Drama „Zappelphilipp“ (2012) mit Bibiana Beglau und erst recht für ihre besten und bekanntesten Arbeiten: die Stasi-Romanze „12 heißt: Ich liebe dich“ mit Claudia Michelsen (Deutscher Fernsehpreis 2008 für Walther) und „Frau Böhm sagt nein“ (Grimme-Preis 2010 für Walther sowie Senta Berger und Lavinia Wilson). Ihr letzter Fernsehfilm war „Die Hochzeit meiner Eltern“ (2016), eine famos gespielte Tragikomödie mit Senta Berger und Günther Maria Halmer als Paar, das den Fehler begeht, nach 40 Jahren ohne Trauschein heiraten zu wollen.
Soundtrack: Alison Krauss & Brad Paisley („Whisky Lullaby“), Justin Moore („If Heaven Wasn’t So Far Away”), The Unthanks („Starless”)
An die herausragende Qualität dieser Werke reicht „Leonessa“ nicht heran. Für Lena Odenthal und Ulrike Folkerts, die man schon abgeschrieben hatte, macht dieser 71. „Tatort“ nach dem gelungenen Jubiläumsfilm „Die Pfalz von oben“ dennoch weiterhin Mut. Die Kommissarin steht zwar diesmal weniger im Mittelpunkt, ist jedoch physisch immer wieder äußerst präsent. Der Fall macht sie wütend, einmal wirft sie, stinksauer, einen Apfel nach der Kollegin, weil sie die Sachlage völlig anders einschätzt. Und ganz am Ende versinkt Odenthal regelrecht in ihrem Schmerz. Ähnlich wirkungsvoll sind die Momente, in denen Walther, die vor über zwanzig Jahren schon mal einen „Tatort“ aus Ludwigshafen gedreht hat („Offene Rechnung“, 1999), optische Akzente setzt: Nach dem Schuss zu Beginn wird das Bild schwarzweiß und friert ein. Spätere Rückblenden sind gleichfalls in Schwarzweiß inszeniert. Besonders effektvoll ist das in Zeitlupe gehaltene düstere Finale, als nicht nur Geld vom Himmel fällt und die Banknoten wie Farbtupfer wirken. Ansonsten nimmt die oft statische Kamera (Cornelia Janssen) eine meist beobachtende Haltung ein: Diese Form der Bildgestaltung, der Perspektivwechsel in Richtung auf die minderjährigen Verdächtigen und der spröde Realismus insgesamt unterstreichen den Fallstudiencharakter. Interessant und akustisch ungewöhnlich ist die Idee, auf Eigenkompositionen zu verzichten und die Ausflüge in die hermetische Welt der Jugendlichen mit Musik der Band The Unthanks zu unterlegen. (Text-Stand: 10.2.2020)