Reto Flückiger (Stefan Gubser) weilt beim Schäferstündchen mit einer verheirateten Frau in einem Hotel, als zwei Stockwerke über ihnen ein Mann aus dem Fenster fällt und stirbt. Liz Ritschard (Delia Mayer) erfährt, dass der investigative Journalist über Gräueltaten im Tschetschenienkrieg recherchiert hat und einem möglichen Kriegsverbrecher auf der Spur war: Ramzan Kaskanov (Jevgenij Sitochin), der mit einer falschen identität in der Schweiz lebt. Die Kommissare suchen den Mann. Sie sind nicht die Einzigen: Auch eine mit Schleppern in die Schweiz gekommene, junge Frau (Yelena Tronina) ist hinter ihm her. Sie findet Unterschlupf bei ihrem Zwillingsbruder (Joel Basman), der bereits in der Schweiz Fuß gefasst hat. Beide geraten bei der Jagd auf Ramzan in höchste Gefahr. Und dann schalten sich auch noch ein tschetschenischer Auftragskiller und die russische Botschaft in die Suche ein.
Es ist ein verschachtelter Fall, den Stefan Brunner und Lorenz Langenegger da entworfen haben. Mehrere Handlungsstränge werden durchaus geschickt in den knapp eineinhalb Stunden zusammengeführt. Allein die Auflösung gerät alles andere als überzeugend. Von den Autoren stammt auch die Episode „Kleine Prinzen“, dies ist ihr zweiter „Tatort“ (ein dritter ist bereits in Arbeit). Ein Themenkrimi, der mutig ist, aufrütteln und sensibilisieren will. Das Thema Tschetschenienkrieg ist hierzulande längst nicht so in den Köpfen haften geblieben wie manch anderer Konflikt. Aber er hat Hunderttausende von zivilen Opfern gefordert, durch verzweifelte Vergeltungsakte sogenannter „Schwarzer Witwen“ viel Hass geschürt und Terrorwellen mit blutigen Anschlägen in Russland zur Folge gehabt. Und so gebührt den Autoren Anerkennung, darauf einmal in einem „Tatort“ den Fokus zu richten. Sie befassen sich nicht mit dem Krieg (genauer gesagt gab es sogar zwei Tschetschenienkriege), es geht ihnen um das schreckliche Erbe, das er hinterlassen hat. Und das, was kriegerische Auseinandersetzungen fast immer hinterlassen – Gewalt, die in die Generation von Kindern und Kriegswaisen übergeht. Dafür steht vor allem die junge Frau, die sich auf einen Rachefeldzug begibt und dabei ihren Zwillingsbruder und dessen Familie mit hineinzieht. Das persönliche Drama der beiden Geschwister steht im Zentrum der Geschichte, dazu die Frage, ob ihre Mutter die Familie im Stich gelassen hat oder dazu gezwungen wurde. „Kriegssplitter“ fliegen auch noch Jahre nach den Kämpfen umher, sie bringen wieder neues Leid und Zerstörung. Das ist die Botschaft, die der Schweizer „Tatort“ aussendet. Und die „Kriegssplitter“ machen vor Grenzen nicht halt, die friedlich-neutrale Schweiz steht dafür.
Es ist der elfte gemeinsame Fall für die Kommissare Liz Ritschard und Reto Flückiger. Und der macht auch etwas sichtbar, was durch die letzten Episoden gegeistert ist. Viel Geheimniskrämerei machte Reto um eine Frau, mit der sich traf und mit der er simste. Nun bekommt sie ein Gesicht (Brigitte Beyeler), wenn auch nur am Rande: Die Affäre der beiden fliegt auf, ihr Mann will sie verlassen, ihr die Kinder wegnehmen. Reto muss darauf reagieren. Er tut es so wie es zu ihm passt: eigenwillig, eher unnahbar und nicht immer nachvollziehbar. Der „Tatort“-erfahrene Tobias Ineichen hat den Krimi um ein Geflecht aus tschetschenisch-russischen Konflikten und einem tragischen Familiendrama ohne viel Mätzchen in Szene gesetzt. Dramaturgisch läuft nicht alles rund und die synchronisierten Passagen wirken holprig. Aber man erfährt einiges über die Hintergründe des Krieges. Und das wirkt nicht aufgesetzt und dozierend, vermittelt sich gut dosiert und eher beiläufig. Manche Figuren bleiben blass – der Botschafter, der Killer, die Ehefrau von Nurali. Doch es gibt auch starke Charaktere: Ramzan und Nurali. Letzterer wird verkörpert von Joel Basman. Und der liefert eine gewohnt starke Leistung ab. Nurali ist die zentrale Figur in diesem Film. Basman arbeitete bereits 2008 mit Tobias Ineichen, spielte die Titelrolle, einen jungen Autisten, in dem Film „Jimmie“, wurde im selben Jahr mit dem „Shooting Star“ als bester Nachwuchsspieler ausgezeichnet. 2015 gewann er dann für seine Rolle in dem Film „Wir sind jung. Wir sind stark“ den Deutschen Filmpreis als bester Nebendarsteller. (Text-Stand: 12.2.2017)