Tatort – Kontrollverlust

Margarita Broich, Wolfram Koch, Jeanette Hain, Elke Hauck. Voller Fragwürdigkeiten

Foto: HR
Foto Thomas Gehringer

Kunst, künstliche Welten und die Anmaßung, einen Menschen nach dem eigenen Willen zu formen: Im „Tatort – Kontrollverlust“ (ARD Degeto / HR) rückt nach dem gewaltsamen Tod einer Gaming-Influencerin eine sonderbare Mutter-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt. Der Film von Elke Hauck und Sven S. Poser wirft spannende psychologische und ethische Fragen auf, wirkt aber teilweise widersprüchlich & erzählerisch nicht überzeugend. Neben Bildgestaltung und Szenenbild ragen die vom HR-Symphonieorchester eingespielte Musik und das Spiel von Jeanette Hain und Béla Gábor Lenz heraus. Margarita Broich und Wolfram Koch sind diesmal als Ermittlerteam das angenehm konventionelle Kontrastprogramm.

Die Künstlerin Annette Baer (Jeanette Hain) erschafft gesichtslose Körper, die aussehen wie überdimensionale Spielfiguren. Eine „hohle Gips-Armee“ nennt sie ihr Sohn verächtlich. Lucas (Béla Gábor Lenz) wird dem Publikum zu Beginn der Frankfurter „Tatort“-Episode „Kontrollverlust“ als gefährlicher Sonderling vorgestellt. Erst vollführt die Kamera eine gespenstische, von einem Klopfgeräusch und einem Schlaflied-ähnlichen Gesang begleitete Wohnungsbesichtigung im Dämmerlicht. Dann öffnet sie an der Seite der Mutter die Tür zu Lucas‘ Zimmer. Dort hockt der junge Mann mit blutverschmiertem T-Shirt und tritt in kontrolliertem Rhythmus gegen irgendein Möbelstück, womit die Herkunft des Klopfens geklärt wäre. Das Rätsel um die Herkunft des Blutes wird auch gleich gelüftet. Cara sei tot, aber er habe ihr nichts getan, beteuert Lucas, der vor allem auf seine Mutter nicht gut zu sprechen ist: „Warum bist du nicht da, wenn ich dich brauche?“, jammert er, ehe er ihr die Tür vor der Nase zuschlägt.

Tatort – KontrollverlustFoto: HR
Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) sind in diesem (psycho)logisch nicht immer stimmigen Krimi-Drama die konservativen Ruhepole.

Das Opfer ist die 24 Jahre alte Cara Mauersberger (Viktoria Schreiber), die erstochen in ihrer Wohnung aufgefunden wird. Cara ist eine Bekannte von Lucas aus der Gamingszene. Sie kommentierte ihre Spiele live im Netz und wurde für ihre feministische Haltung insbesondere von einem bestimmten Gamer angefeindet. Eine mögliche weitere Spur deutet bereits die „Aufwachen“-Parole auf dem T-Shirt von Hausverwalter Leon Hamann (Franz Pätzold) an, der Caras Leiche gefunden hat. Leon stammt wie die junge Influencerin aus dem Osten und hat es ihr übel genommen, dass sie die Heimat verließ – etwas kurios, wenn man bedenkt, dass er nun selbst im Westen lebt. Die druckreifen Sätze, die er im Verhör formuliert, klingen ein bisschen sehr nach Vortrag und werden plakativ kombiniert mit dem wehleidigen Gejammer eines frustrierten jungen Mannes, der keine Partnerin finden kann. Da hat die im sächsischen Riesa geborene Elke Hauck (Drehbuch, Regie) im Kino schon Überzeugenderes zum Thema geschaffen („Flügge“, „Karger“, „Der Preis“).

Ost-West-Verhältnis, Sexismus – die Aspekte sind hier leicht durchschaubare Ablenkungs-Manöver: Hauck und ihr Co-Autor Sven S. Poser rücken nicht von ungefähr bereits in den ersten Szenen das merkwürdig anmutende Verhältnis von Mutter und Sohn in den Mittelpunkt. Sie sei doch auf seiner Seite, beteuert Annette und handelt auch entsprechend. Sie redet beruhigend auf Lucas ein, kümmert sich um die blutigen Klamotten und plant schon bald die gemeinsame Flucht. Allerdings verweigert ihr Anwalt Adrian Kämmerer (Thomas Sarbacher) die vorzeitige Auszahlung des ganzen Nachlasses ihrer verstorbenen Eltern. Er könne deren Testament nicht ignorieren. „Sie waren Kontrollfreaks, so wie du“, sagt Adrian.

Hörenswert die vom HR-Symphonieorchester eingespielte Musik, die sich nicht pathetisch in den Vordergrund drängt. Sehenswert neben Jan Veltens ruhiger, konzentrierter Bildgestaltung außerdem, wie Jeanette Hain und Béla Gábor Lenz die spannungsreiche Symbiose von Mutter und Sohn spielen. Annette Baer erfüllte sich ihren Kinderwunsch mit Hilfe einer Samen-Spende, um unabhängig zu bleiben von einem männlichen Erzeuger. Die eigens von der Künstlerin Birgit Brinkmann für den Film hergestellten Homunkulus-Figuren dienen als Metapher für die Anmaßung, einen Menschen ganz nach dem eigenen Willen zu formen. Auch die Computerspiele, deren Design der zeichnerisch begabte Lucas entwirft, weisen auf das Thema künstliche Welten hin. Insofern spielt der Film mit spannenden psychologischen und ethischen Fragen um Kontrolle, Verantwortung und Selbständigkeit. Aber erzählerisch ist der Mutter-Sohn-Konflikt zum Teil schwer nachvollziehbar. Denn vom „Kontrollfreak“ Annette ist nicht viel zu erkennen, zumal sie mitten in der Vorbereitung ihrer neuen Ausstellung steckt. Während Lucas anfangs seine Vernachlässigung durch die Mutter beklagt, wirft er ihr am Ende vor, er habe „so viel eigenes Leben wie deine hohle Gips-Armee hier“. Beides erscheint nicht gerade einleuchtend. Und die Verbindung zwischen Mutterschaft per Samenspende und Kontrollzwang ist auch eher fragwürdig. Immerhin: Lucas‘ Jähzorn, der ihn – erst recht nach einem zweiten Mord – verdächtig erscheinen lässt, sorgt für die notwendige Krimi-Spannung.

Tatort – KontrollverlustFoto: HR
Anette Baer (Jeanette Hain) mit zwei Soldaten ihrer „Hohle-Gips-Armee“-Skulpturen. eDie gozentrische Künstlerin hat ein sehr spezielles Verhältnis zu ihrem Sohn.

In diesem etwas angestrengt konstruierten Fall bildet das harmonierende Ermittlerteam einen angenehm konventionellen Gegenpol, wieder mit Zazie de Paris als Fanny, deren Bistro auch als Handlungsort miteinbezogen wird. Kommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) schießt ihre Tatort-Fotos diesmal nur mit dem Smartphone statt der obligatorischen Kamera. Dafür taucht sie am Tatort im schicken Ballkleid auf, weil sie an der Taufe ihres Enkelkinds in Australien teilnahm – per Videocall. Janneke ist diesmal neben dem stets fleißigen Jonas Hauck (Isaak Dentler) die treibende Kraft, denn die professionelle Neutralität ist beim Kollegen Paul Brix (Wolfram Koch) angesichts der attraktiven Künstlerin leicht eingetrübt. „Ich würde schon noch gerne mal die Kontrolle verlieren – mit jemand“, sagt Brix, aber so ist der Episodentitel dann doch nicht gemeint. (Text-Stand: 30.11.2023)

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Reihe

HR

Mit Margarita Broich, Wolfram Koch, Jeanette Hain, Béla Gábor Lenz, Isaak Dentler, Franz Pätzold, Mina-Giselle Rüffer, Thomas Sarbacher, Viktoria Schreiber, Anita Iselin, Zazie de Paris

Kamera: Jan Velten

Szenenbild: Manfred Döring

Kostüm: Sabine Böbbis

Schnitt: Silke Franken

Musik: Bertram Denzel, Max Knoth

Redaktion: Erin Högerle, Lili Kobbe, Birgit Titze

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Produktion: Ulrich Dautel

Drehbuch: Elke Hauck, Sven S. Poser

Regie: Elke Hauck

Quote: 5,33 Mio. Zuschauer (18,8% MA)

EA: 26.12.2023 20:15 Uhr | ARD

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