Tatort – Kaltstart

Möhring, Schmidt-Schaller, Marvin Kren. Globalisierung und gläserne Gesellschaft

Foto: NDR / Boris Laewen
Foto Klaudia Wick

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Der JadeWeserPort, der gefloppte Tiefwasserhafen von Wilhemshaven, bietet dem „Tatort“-Ermittler Thorsten Falke alias Wotan Wilke Möhring eine perfekte Spielfläche für sozialkritische Projektionen. „Kaltstart“ ist der erste Film der Reihe, der ein Ermittlerteam der Bundespolizei (BPol) ins Zentrum stellt. Der Film verknüpft zwei viel diskutierte Themen der Globalisierung: den weltweiten Warenverkehr, der in Europa Wenige reich & Viele arbeitslos macht, und die lebensgefährliche Ausbeutung von Armutsflüchtlingen. Sehr gelungen!

Der JadeWeserPort war geplant als der ganze Stolz der Region. Jetzt ist der Tiefwasserhafen für den Standort Wilhelmshaven der ganz große Flop. Die Weltwirtschaftskrise hat den globalisierten Containerhandel auf ein Normalmaß zurückgestutzt. Die Frachtschiffe, für die der neue Haften ausgelegt ist, bleiben aus. Statt dass hier in großem Stil Container gelöscht werden, füllen sich auf den leeren Flächen des Terminals nur regelmäßig die Regenpfützen. Was für die Betreiber ein Horror Vacui sein mag, ist für den Ermittler Thorsten Falke eine perfekte Spielfläche für sozialkritische Projektionen: Was, wenn hier, wo sich Fuchs und Robbe „Gute Nacht“ sagen, im großen Stil krumme Geschäfte abgewickelt werden?

Tatort – KaltstartFoto: NDR / Boris Laewen
Stimmige Sozialkritik im NDR-„Tatort – Kaltstart“: die lebensgefährliche Ausbeutung von Armutsflüchtlingen

Mit einer genregemäßen Explosion wird das Gedankenspiel eröffnet. Ausgerechnet die Bundespolizistin Rita, eine alte Liebe von Thorsten Falke, wird bei einer nächtlichen Observation getötet. Der Anschlag, bei dem sie ihr Leben verliert, galt einem korrupten Hafenmeister, der offenbar afrikanische Flüchtlinge containerweise ins Land schleust und sie als billige, weil illegale Arbeitskräfte an den örtlichen Schlachthof weitervermittelt.

Der dritte „Tatort“ mit Wotan Wilke Möhring und Petra Schmidt-Schaller ist der erste Film der Reihe, der ein Ermittlerteam der Bundespolizei (BPol) ins Zentrum eines Krimis stellt. „Kaltstart“ verknüpft so zwei viel diskutierte Themen der Globalisierung: den weltweiten Warenverkehr, der in Europa Wenige reich und Viele arbeitslos macht. Und die lebensgefährliche Ausbeutung von Armutsflüchtlingen, denen angesichts von Bürgerkrieg und sozialer Verelendung der Wohlstand in Europa wie ein Himmelreich erscheinen muss.

Thorsten Falke, seelisch aufgeraut vom Tod seiner ehemaligen Kollegin Rita, wird als neuer Dienststellenleiter gleich mit den komplexen wirtschaftlichen und grenzrechtlichen Zusammenhängen konfrontiert. Er muss die Hafenlogistik begreifen und das Wirtschaftsgefüge verstehen, um seinen Fall lösen zu können. Frei von allzu offensichtlicher Belehrung gelingt es den Drehbuchautoren Volker Krappen und Raimund Maessen, dem Zuschauer die nötigen Fakten zu vermitteln. Ein Verdächtiger nach dem anderen schiebt sich Falke und seiner Kollegin Lorenz in den Blick: Der Lademeister Martinsen (Jochen Nickel) hat sich, die eigene Arbeitslosigkeit vor Augen, ein kleines illegales Zubrot verdient. Der Spediteur Dreyer (Andreas Patton) hat wirtschaftlich alles auf Zukunft des JadeWeserPorts gesetzt – nun sind seine LKWs so leer und überflüssig wie der Containerhafen. Ein verdächtiges Containerschiff landet in Wilhelmshaven an und legt eilig wieder ab, bevor die Bundespolizei  es durchsuchen konnte. Als die Sonderkommission endlich erkennt, dass ihnen jemand immer einen entscheidenden Schritt voraus ist, hat der Zuschauer längst begriffen, dass der mysteriöse Unbekannte (André Hennicke) in der schwarzen Limousine mit Funküberwachung und GPS-Verfolgung sein eigenes Hightech-Spiel mit den braven Beamten spielt.

Tatort – KaltstartFoto: NDR / Boris Laewen
Der mysteriöse Unbekannte (André M. Hennicke) spielt sein eigenes Hightech-Spiel mit den braven Beamten. Äußerst effektiv: die Übermacht-Ohnmacht-Dramaturgie

Und der Film führt noch auf ein drittes gesellschaftsrelevantes Thema hin: die gläserne Gesellschaft. Je mobiler, kommunikativer, vernetzter sie sich gibt, desto leichter können Handys abgehört, Bewegungsmuster aus dem All verfolgt und das Leben jeden Einzelnen sogar mit geheimnisvollen ferngesteuerten Drohnen bedroht werden. Diese Angstphantasie beflügelt „Kaltstart“ mit in die Handlung eingefügten graugrünen Überwachungsbildern, gerasteten Luftaufnahmen oder gescannten Zielobjekten. Die Filmkomposition von Stefan Will und Marco Dreckkötter überziehen die Szenerie dann mit hektischem Flirren. Ein ums andere Mal überflügeln die synthetischen Töne die „natürlichen“ Streichermotive. Auch die Bildgestaltung von Moritz Schulheiß baut Spannung auf, indem sie auf Widersprüchlichkeit setzt. Die leeren Flächen des Hafens spielt die Kamera mit extremen Totalen, was die trostlose Perspektivlosigkeit der Hafenanlage erst recht visualisiert. Immer wieder stellt die Inszenierung von Regisseur Marvin Kren aber der Riesen-Architektur im Hafen intime, mit der Handkamera gedrehte Close-ups entgegnen, und stellt so das Verhältnis zu den Menschen wieder her. Für den Zuschauer ist jederzeit spürbar, wie sehr die unübersichtliche Lage alle in einen Ausnahmezustand versetzt. Während die dunkle Macht aus einem nicht näher erklärten Headquarter jederzeit und über alles bestimmen kann, muss die Bundespolizei sich überhaupt erst konstitutieren: Das Hauptquartier der SoKo wird in einer Schule errichtet, die Verhöre finden in der Sammeldusche einer Turnhalle statt. Eine provisorische Szenerie, heimatlose Beamte, angeführt von einem Diensstellenleiter Falke, der seine Rolle noch finden muss.

Diese Übermacht-Ohnmacht-Konstellation ist künstlerisch wie dramaturgisch effektiv geschildert und als Krimimotiv extrem produktiv. Vor allem löst „Kaltstart“ verblüffend souverän das Versprechen von Wotan Wilke Möhring ein, seinen Tatort-Kommissar sicher nicht ohne Herz, aber ohne „privates Gedöns“ ermitteln zu lassen. (Text-Stand: 27.3.2014)

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Reihe

NDR

Mit Wotan Wilke Möhring, Petra Schmidt-Schaller, Sebastian Schipper, André M. Hennicke, Jochen Nickel, Sascha Alexander Gersak, Andreas Patton, Jimmy Jean-Louis

Kamera: Moritz Schultheiß

Szenenbild: Wolfgang Arens

Schnitt: Lars Jordan

Musik: Stefan Will, Marco Dreckkötter

Produktionsfirma: Cinecentrum Hannover

Drehbuch: Volker Krappen, Raimund Maessen

Regie: Marvin Kren

Quote: 9,57 Mio. Zuschauer (26,6% MA)

EA: 27.04.2014 20:15 Uhr | ARD

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