Ein toter Fuchs liegt auf der Straße, ein Auto fährt achtlos drüber. Im Wagen sitzen zwei Wiener Strizzis, im Radio läuft ein alter STS-Song. Der Beifahrer zündet sich eine E-Zigarette an, der Fahrer spottet: „Bist Veganer?“. Auf einem Feldweg werden die beiden von einem maskierten Räuber überfallen, es fällt ein Schuss, der Fahrer stirbt, der Gangster flieht mit einer Tasche, zurück bleibt Pico Bello (Christopher Schärf). Der ruft seinen Boss an, der schickt Hilfe. Das Auto wird angezündet, der Leiche die Zähne zertrümmert, damit man sie nicht identifizieren kann. Dieses Bild bietet sich den Ermittlern der BK-Sonderkommission. Mühsam arbeiten sich Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) Schritt für Schritt voran: Was ist passiert? Wer ist der Tote? War es ein gezielter Mord? Bald stellt sich heraus, dass es der Geldbote vom „Dokta“ (Erwin Steinhauer) war, einem Wiener Großkriminellen („ein Strizzi vom alten Schlag, oberes Management“ charakterisiert ihn Oberst Ernst Rauter). Doch wer ist so lebensmüde, ausgerechnet den „Dokta“ zu berauben? Auch der will den Mörder finden und vor allem sein Geld. Da entdeckt Bibi ein Foto ihres alten Freundes „Inkasso Heinzi“ (Simon Schwarz), der in der Nähe des Tatorts von einer Überwachungskamera gefilmt wurde. Hat er etwas mit dem Mord zu tun? Bibi behält die Sache für sich. Doch Moritz kommt dahinter und findet bei Heinzi die Tatwaffe.
Foto: ORF / Hubert Mican
Es geht um Freundschaft, es geht um Vertrauen und Misstrauen in dem typischen Wiener „Tatort“-Krimi „Her mit der Marie!“. Die beiden Ganoven arbeiteten seit Jahren eng zusammen, der „Dokta“ will seine Geschäfte peu á peu an den jungen Pico Bello übergeben, zweifelt aber zunehmend, ob er ihm trauen kann. Und auch das Vertrauensverhältnis zwischen Bibi und Moritz wird auf eine harte Probe gestellt. Als sie „Inkasso Heinzi“ schützt und sogar bei sich beherbergt, sagt sie zu Moritz: „Es geht um Vertrauen und Freundschaft, das verstehst du nicht.“ „Danke, das hat jetzt richtig weh getan“, antwortet der tief getroffen. Kurz zuvor hatte er ihr noch offenbart: „Ich bin froh, dass ich dich hab“. Und sie: „Vergiss es halt bis morgen nicht wieder.“ Er hat zudem den Verdacht, dass Bibi wieder zur Flasche greift. Nicht zu Unrecht, denn in einer herrlichen Parallel-Szene, als beide Kommissare mit Einkaufswagen in Supermärkten unterwegs sind und miteinander telefonieren, greift die Kommissarin zum Sixpack Bier. Und als sie mit Moritz skypt, stellt sie die Flasche vorher zur Seite.
Kein anderer „Tatort“ von Luzern bis Dresden, München bis Köln arbeitet so konsequent mit Dialekt. „Siegst ned des Auto, das uns schon seit Schwechat dranpickt“, „Mei Marie muas wieda her, host mit“, „die Tschickstummeln hebst ma auf“. Hier leben die Charaktere stark von der Sprachfärbung. Das ist gut so. Man nimmt sie ihnen nicht – wie im Schweizer „Tatort“ – weg. Stefan Hafner und Thomas Weingartner, die auch schon zusammen den ORF-Landkrimi „Wenn du wüsstest, wie schön es hier ist“ geschrieben haben, der auch sehr dialekthaltig war, setzen auf Figuren, die zwischen Realität und Karikatur hin- und herschwanken. Die Dialoge sind punktgenau und teils herrlich pointiert. Die Story erweist sich zu Beginn als undurchsichtig, zunehmend wird sie klarer, bis zum Finale bleibt sie spannend.
Foto: ORF / Hubert Mican
Wunderbar ist die Kameraarbeit von Matthias Pötsch. Manche Einstellungen gleichen einem Gemälde. Etwa wenn Bibi mit ihrem blauen Ford bei „Inkasso Heinzi“ auftaucht und sich die beiden vor seiner Werkstatt auf eine Bank setzen und Leberkässemmeln essen („Du verstehst mein Leberkäs-Dilemma: Eine ist immer zu wenig, zwei sind zu viel, drei für zwei, so hat es der Herrgott wollen“). Stilleben in Austria: der Putz bröckelt, am Türrrahmen ist Rost, ein schmuckloses Werkstattschild und mittendrin diese beiden – sie das Gegenteil einer Vorzeige-Polizistin, er ein kleiner Ganove, der vom großen Coup träumt, sich aber (bisher) nicht traut. Und als musikalische Klammer des Films der so sehnsuchtsvolle STS-Song „Irgendwann bleib i dann dort …“ über ein Leben im Süden, in Griechenland. Am Anfang nur ein Lied, am Ende bekommt es eine Bedeutung. Dass auch der Wiener Liedermacher Voodoo Jürgens als er selbst bei einem Grillfest des „Dokta“ singen darf, ist aber nicht mehr als ein Gag.
Nach der Episode „Virus“ (2017) ist „Her mit der Marie!“ der zweite „Tatort,“ den Barbara Eder („Thank You For Bombing“) inszeniert hat. Die Regisseurin zieht alle Register. Die Eröffnungsszene in karger Landschaft, die Tristesse Wiener Spelunken, das schillernde Rotlichtmilieu – das kommt alles stimmig rüber. Die Szenen der Razzien in den Lokalen des „Dokta“ zeigt sie mit rasanten Bildfolgen, harten Schnitten & Splitscreen im Schnelldurchlauf. Und was wären Wiener Krimis ohne die richtigen Typen. Erwin Steinhauer spielt den „Dokta“ mit Langhaarfrisur famos, Christopher Schärf als Pico Bello ist der verschlagene Emporkömmling, Johannes Krisch als Jukic der perfekte böse Bube. Und dann ist da ja noch Simon Schwarz: Lange musste man warten bis sein „Inkasso Heinzi“ wieder einen tragenden Part im Wiener „Tatort“ spielen durfte. In „Her mit der Marie!“ ist es endlich soweit.