Zähe Geschichten, holprige Dialoge, Irritationen durch die nachträgliche Synchronisation ins Hochdeutsche, verhältnismäßig schlechte Einschaltquoten – der Schweizer „Tatort“ hatte in den letzten Jahren mit so manchen Problemen zu kämpfen. Kaum steht das Ende fest (2019 gibt es noch zwei Folgen, dann schließt das Kommissariat in Luzern und es wird von Zürich aus mit einem neuen Team ermittelt) – da beweisen die Eidgenossen, dass sie mehr drauf haben und sich zuletzt unter Wert verkauft haben. Im Sommer sorgte der in einer einzigen Kameraeinstellung gedrehte „Tatort – Die Musik stirbt zuletzt“ bereits für Aufsehen; Regisseur Dany Levi erhielt dafür kürzlich den Sonderpreis für Regie beim FernsehFilmfestival in Baden-Baden. Und nun also der „Tatort – Friss oder stirb“, ein Krimi-Kammerspiel mit Klassenkampf-Touch, das viel Spannung und Atmosphäre zu bieten hat.
Foto: Degeto / SRF / David Winkler
Alles beginnt mit dem Mord an einer Wirtschaftsprofessorin an der Uni Luzern. Lackproben von einem vor dem Haus angefahrenen, geparkten Wagen, führen Liz Ritschard (Delia Mayer) und Reto Flückiger (Stefan Gubser) zu Anton Seematter (Roland Koch), CEO von Swisscoal, dessen Tochter Leonie (Cecilia Steiner) bei der Ermordeten studiert hat. Parallel dazu reist der deutsche Arbeitslose Mike Liebknecht (Misel Maticevic) in die Schweiz ein und verschafft sich – mit einer Pistole bewaffnet – Zugang zu der luxuriösen Villa Seematters und nimmt dessen Frau (Katharina von Bock) und Tochter als Geiseln. Kurz darauf kehrt Seematter nach Hause zurück und wird von Liebknecht ebenfalls überwältigt. Als die Luzerner Cops entdecken, dass das Tatopfer eine hohe Spende von Seematter gegen den Willen der Uni-Leitung zurückgewiesen hat, suchen sie den Manager auf. Sie werden von Seematter an der Tür abgewiesen, schöpfen Verdacht und sind kurz darauf ebenfalls Geiseln von Liebknecht, der Arbeiter in Seematters Firma war und – wie viele andere – seinen Job verloren hat.
Soundtrack: u.a. Joe Cocker („I Put A Spell On You“), Johnny Cash („Danny Boy“), Rolling Stones („Paint It Black“), Nick Cave & The Bad Seeds („God Is In The House“), The House of Love („Who By Fire“)
Es ist ein Duell arm gegen reich, kleiner Mann gegen großen Konzernmanager, das die Autoren Jan Cronauer & Matthias Tuchmann da entworfen haben. Cronauer hat bisher einige Folgen der RTL-Serie „Lasko“ und „Der Kriminalist“ (ZDF) geschrieben, an einer Folge der Netflix-Serie „Dogs of Berlin“ mitgewirkt, Tuchmann hat bis zu seinem frühen Tod 2016 die Bücher zu einigen „Tatort“-Krimis verfasst („Nachtsicht“, Dein Name sei Harbiger“). Die Autoren verzichten geschickt auf Klassenkampf-Parolen früherer Arbeiterfilme. Ihr Protagonist, der geschasste Arbeiter, fordert Verlässlichkeit und Sicherheit ein. Er will von dem Mann, den er gekidnappt hat, nur das, was ihm durch die Entlassung entgeht. Als er die Summe vorrechnet, reagiert sein Gegenüber mit Zynismus. Der Boss korrigiert die zustehende Lohnrechnung und ergänzt sie um die Inflationsrate. Cronauer und Tuchmann wollen keine platten Botschaften aussenden und moralisieren, sie arbeiten mit Humor, Sarkasmus und Überhöhungen – ohne ihre Figuren zu verraten. Ist am Anfang alles im Haus noch in Gut und Böse eingeteilt, so verschwimmen im Verlauf der Geschichte die Grenzen immer mehr.
Foto: Degeto / SRF / David Winkler
„Notstandsrechte“ lautete der Arbeitstitel dieser „Tatort“-Folge. Eigentlich ein treffender Titel. Denn im deutschen Bürgerlichen Gesetz Buch (BGB) gibt es den §228, den Notstandsparagraphen. Er bedeutet, dass man im Falle einer Notsituation – in einem sogenannten „Defensiven Notstand“ zur Beseitigung einer Gefahr quasi berechtigt ist, die Gefahr durch Beschädigung einer fremden Sache zu beseitigen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Und in so einer Situation sieht sich der entlassene Liebknecht (ob der Name als Anspielung auf den ehemaligen Sozialisten und Sprecher der revolutionären Linken, Karl Liebknecht, gewählt wurde?). Es geht um ungleich verteilte Chancen. Hier die Superreichen („Es kann nicht jeder mit Privilegien geboren werden, sonst wären es ja keine mehr“), da die auf der Strecke Gebliebenen. Hier die Macht, da die Ohnmacht. Und das führt zu der Geißelnahme, dem einzigen Weg, den dieser verzweifelte Liebknecht sieht.
Regisseur Andreas Senn setzt in seinem sechsten „Tatort“ (übrigens der erste in der Schweiz, dem Land, in dem er geboren wurde) die beiden Welten klug in Szene. Hier die arrogante Elite mitsamt verwöhnten Richkids, da der chancenlos ausgelieferte Arbeitnehmer. Die zunehmende Eskalation dieses Aufeinanderprallens verschiedener Welten hat Senn in Form eines atmosphärisch dichten Kammerspiels inszeniert. Die Lage wandelt sich stetig. Irgendwann rennt Seemater mit einem Maschinengewehr durch sein Haus und macht Jagd auf den Geiselnehmer. Autor Matthias Tuchmann hat mit dieser Szene eine – wie Andreas Senn es formuliert – „Schweizer Eigenheit“ verarbeitet, denn laut Senn steht in vielen Schweizer Wohnungen und Häusern ein Maschinengewehr im Schrank. Am Ende gibt es keine Sieger, nur noch Verlierer. Mit Misel Maticevic als Liebknecht und Roland Koch als Seematter hat Senn zwei exzellente Schauspieler, die keine großen Gesten brauchen, ihr Spiel ist reduziert, präzise, prägnant. Das gilt auch für Katharina von Bock als Seematters berechnende Ehefrau.