„Herr Kehl hat seine Strafe abgesessen… Wir als Gesellschaft sollten alles dafür tun, dass das nicht noch einmal passiert.“ Gerade noch hat sich Franziska, die nebenbei ehrenamtlich als Bewährungshelferin arbeitet, bei der Gefängnis-Direktorin für diesen Vergewaltiger und Frauenmörder eingesetzt, jetzt befindet sich die gute Seele der Kölner Mordkommission in dessen Gewalt. Im Besucherraum der JVA Köln. Keiner konnte damit rechen: Denn Daniel Kehl stand kurz vor seiner Entlassung. Offenbar hat er einen Mithäftling ermordet, es gibt einen Zeugen, doch Kehl beteuert seine Unschuld. Da er weiß, dass man ihm nicht glauben wird, will er jetzt so schnell wie möglich raus – und Franziska, deren Kopf in einer Kabelbinderschlinge steckt, soll ihm dabei helfen. Zwar steht das SEK in Stellung; eine Stürmung aber würde – wenn Kehl ernst macht – ihren sicheren Tod bedeuten. Derweil nehmen Ballauf und Schenk im Knast ihre Ermittlungen auf. Ist Kehl tatsächlich unschuldig – dann könnte sich die Lage nur entspannen, wenn die beiden den wahren Mörder überführen.
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Der „Tatort – Franziska“ machte im Vorfeld von sich reden, da er in der 43jährigen Geschichte des ARD-Krimiflaggschiffs die erste Episode ist, die aus Jugendschutzgründen erst um 22 Uhr gesendet wird. Der späte Ausstrahlungstermin ist durchaus berechtigt, vergleicht man den Film mit den Gewaltdarstellungen und Bedrohungsszenarien anderer 16er-Freigaben von FSK- oder FSF. Und da ein solch nachhaltiges Ängstigungspotenzial vom „Tatort“ nicht erwartet wird, könnte der Schock für Kinder und die Eltern, die ihren Kids das Sehen des letzten verbleibenden TV-Rituals gewohnheitsmäßig erlaubt haben, besonders groß sein. Darüber hinaus ist der Gedanke von WDR-Fernsehfilmchef und „Tatort“-Koordinator Gebhard Henke im ARD-Presseheft überaus bedenkenswert: „Die internationale Tendenz, mehr und nicht weniger Gewalt darzustellen, wird den Anspruch, den ‚Tatort’ so zu schreiben und zu inszenieren, dass er um 20.15 Uhr (was der Einstufung der FSK ab 12 Jahren entspricht) ausgestrahlt werden kann, in Zukunft eher schwerer umsetzen lassen.“
Worauf basiert Henkes Annahme? Die internationale Konkurrenz ist in punkto (Mini-)Serie eben nicht nur oft besser, realistischer, direkter, härter, raffinierter; sie geht auch anders mit Zuschauererwartungen um, ist offener für Gewalt, aber diese hoch gelobten Kultobjekte wie „Breaking Bad“ oder „Hannibal“ sind in der Regel ab 16 Jahre freigegeben – also hierzulande aus Jugendschutzgründen ungeeignet für die PrimeTime. Da diese Formate allerdings die Erwartungshaltung des jüngeren Publikums maßgeblich mitbestimmen und der „Tatort“ seinen Kredit bei den Zuschauern zwischen 20 und 40 nicht verspielen will, wurde die Gewaltspirale am Sonntagabend deutlich angezogen. Ein extremes Beispiel dafür ist nun Dror Zahavis Psychothriller-Krimi im klaustrophobischen Kammerspielformat. „Die starke Wirkung dieses Films war nicht eindeutig vorhersehbar“, sagt Henke. Und man kann es glauben.
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
„Franziska“ ist ein „Tatort“, der ein Genre-Experiment eingeht, wie man es sich bei jährlich rund 100 Krimireihen-Episoden in ARD und ZDF öfters wünschen würde. Das Buch von Jürgen Werner besticht sowohl durch seine Katz-und-Maus-Spiel-Momente als auch durch starke dramaturgische Wendungen. Auch von seinem Ende her betrachtet, hält das Krimikonstrukt der (Psycho-)Logik stand. Das ist schon etwas mehr als trickreiches Handwerk. Tessa Mittelstaedt, deren kriminalpsychologisch erfahrene Franziska es anfangs mit Vernunft und Deeskalation versucht („Arbeiten Sie mit mir zusammen“), emanzipiert sich erstmals so richtig von Behrendt und Bär. Die Kommissare rutschen als solide Knast-Ermittler in die zweite Reihe – wobei deren Hang, sich gegenseitig Fall und Tathergang im Konjunktiv zu erklären, unter den örtlichen Gegebenheiten besser erträglich ist als sonst. Auch das Spiel von Hinnerk Schönemann hält bis kurz vor Schluss alle Optionen für seinen Charakter offen.
Überdies befeuern die Hypothesen auf der Seite der „Befreier“ die spannende Situation im Besucherraum. Wenn Kehl nicht der Mörder ist, wird er im Ernstfall wohl nicht zum Äußersten gehen. Tut er es doch, ist die Überlebenschance für die Geisel gering. Und eines steht fest: aus dem Kabelbinderhalsband gibt es so gut wie kein Entkommen. Der Nervenkitzel ist also dramaturgisch garantiert. Da mussten Dror Zahavi und sein Kameramann Gero Steffen „nur“ noch das, was sie in der von 1893 bis 2012 betriebenen Düsseldorfer Justizvollzugsanstalt „Ulmer Höh“ vorfanden, stimmungsvoll ins Bild setzen. Das bedeutendste Gewerk für den Spannungsfluss dieses Kammerspielkrimis, in den auch Gerichtsmediziner Joseph Roth wirkungsvoll eingebunden wird, ist die Montage (von Fritz Busse). In „Franziska“ konstituiert sie maßgeblich die Erzählung und die Atmosphäre und sorgt für die Nuancierung des Dramas. Wie gesagt: den Mut zu solchen konzentrierten, handwerklich überaus versierten Genre-Geschichten (innerhalb des „Tatorts“) würde man sich öfters wünschen im deutschen Fernsehen. Da allerdings der einzige gesellschaftliche Aufreger im bzw. um diesen Film die Sendeplatz-Diskussion ist, gehört „Franziska“ nicht zu den zwei, drei überragenden „Tatort“-Episoden des Jahres 2014. (Text-Stand: 30.11.2013)
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