Die ersten drei Minuten von „Finsternis“ sind schon mal ein Horror-Einstieg vom Feinsten: Das junge Paar an der großen, vollkommen leeren Tankstelle scheint ganz allein auf der Welt zu sein. In dem vom Vollmond beschienenen Wald balancieren sie zu zweit auf einem Fahrrad und witzeln gerade über Werwölfe, als Schreie und Hilferufe durch die Dunkelheit hallen. Ein Auto schaltet die Scheinwerfer ein, irgendwo leuchtet eine Taschenlampe auf, das Keuchen einer Gestalt ist zu hören. Mutig will die junge Frau der Sache auf den Grund gehen, doch am Ende stürzt sie mit ihrem Freund entsetzt aus dem Wald.
Foto: HR / Bettina Müller
Im Bremer „Tatort“ trieb schon mal ein Vampir sein Unwesen, da wäre eigentlich auch ein Werwolf keine Überraschung mehr. Zumal die Leiche der Frau, über die der Zeuge im dunklen Wald gestolpert sein will, nicht mehr zu finden ist. Aber Blutspuren sind schon vorhanden, und auch das Kennzeichen des in der Nähe gesichteten Autos hat sich die junge Zeugin gemerkt. Damit beginnt eine andere Art von Horrorfilm – eine, die in den Abgrund eines Familien-Dramas blicken lässt. Petra Lüschow, die ihr Drehbuch selbst inszenierte, nimmt sich Zeit, den Schrecken langsam, aber umso wirkungsvoller zu entfalten. Mit interessanten, nicht leicht zu durchschauenden Figuren und mit Angedeutetem und Unausgesprochenem lässt Lüschow Freiräume für die Fantasie des Publikums. Auch die Kamera von Jan Velten sorgt dafür, dass von Beginn an eine etwas unheimliche Spannung in der Luft liegt. Der Clou: Nach einer Stunde ist ziemlich klar, wer was warum getan hat. Aber gerade dann zieht Lüschow die Spannungsschraube noch mal an und entwickelt ein „Tatort“-würdiges Psychothriller-Finale.
Das von dem jungen Paar beobachtete Fahrzeug gehört Maria Gombrecht (Victoria Trauttmansdorff). Ihr Mann Ulrich (Uwe Preuss), ein Berufsschullehrer, erklärt der Polizei, seine Frau sei zum Fastenwandern in den Pyrenäen aufgebrochen. Auch die beiden erwachsenen Töchter wollen nicht glauben, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen sein könnte. Kristina (Odine Johne) ist schwanger und lebt mit ihrem Mann direkt gegenüber. Ihren an Leukämie erkrankten Vater hütet sie wie ihren Augapfel. Mit Schwester Judith (Julia Riedler), die mehr oder weniger erfolgreich als Theaterregisseurin in Berlin arbeitet und gerade wieder in ihrer Heimatstadt eingetroffen ist, gerät sie dagegen schnell in Streit. Ihre verschwundene Mutter verfügte über erhebliche Geldmittel und eine Großzügigkeit, auf die Judith gern baute.
Foto: HR / Bettina Müller
Es besteht kein Zweifel daran, dass es ein Verbrechen gegeben haben dürfte. Das Blut im Wald stammt von Maria Gombrecht, aber ihre Leiche findet sich auch in dem Auto nicht, das die Polizei aus einem kleinen See fischt. Je tiefer Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) graben, desto seltsamer wirken die Gombrechts. Judith verwickelt sich in Widersprüche, Kristinas Mann Freder (Casper Kaeser) sollte im Auftrag seiner Frau und seines Schwiegervaters die vermisste Maria ausspionieren und Ulrich verstört ohnehin durch leise, leichthin ausgesprochene Grobheiten. Uwe Preuss spielt diesen unscheinbaren Berufs-Schullehrer kurz vor der Rente mit einer Beiläufigkeit und einem Understatement, das umso erschreckender ist. Der erste Verdächtige ist allerdings der psychisch kranke Lenny (Frank Casali), der in seinem Waldversteck auch Maria Gombrechts Tasche voller Geld verbirgt.
„Finsternis“ ist schön rätselhaft und zunehmend unheimlich. Dabei gelingt es Petra Lüschow, die verstörende Gewalt intensiv spürbar werden zu lassen, ohne sie explizit zu zeigen – und gleichzeitig das verschwundene Opfer wieder sichtbar zu machen. Ebenfalls angenehm: Das Frankfurter Ermittler-Duo und sein unermüdlicher Helfer Jonas (Isaak Dentler) präsentieren sich hier als eingespieltes Team ohne zusätzliche private Nebenhandlungen – sieht man von kurzen Ausflügen in Fannys (Zazie de Paris) neue Bar ab. Zwar dürfen Broich und Koch die Kommissare bei einer Scheidungsanwältin mal scherzhaft als „altes Ehepaar“ spielen, doch in dieser Episode erweist sich vor allem Janneke als Menschenkennerin und gute Beobachterin.
Foto: HR / Bettina Müller