Mit der menschlichen Wahrnehmung ist das so eine Sache – aber auch die Erinnerung kann einem ein Schnippchen schlagen. Das müssen Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers) im Zuge der Ermittlungen zweier Todesfälle feststellen. Der Professor bekommt es besonders schmerzlich zu spüren. Dabei fing alles so locker an, mit einem Späßchen auf Kosten von Stubenhocker Thiel, dem eine ausgelassene Studi-Party folgte. Boerne hatte ein paar Cocktails zu viel, nächtigte auf des Kommissars Sofa und weiß am nächsten Morgen von nichts – ist jedoch überraschend fit und nutzt seine medizinische Vorlesung gleich zur Erörterung eines neuen Todesfalls: Ausgerechnet nach der Uni-Sause liegt der Barkeeper (Jonas Stenzel) beim Partyabfall zwischen den Mülltonnen. Eine Stichwunde führte zum Erstickungstod. Schnappatmung wenig später auch bei Boerne, als er erfährt, was er sich in der Nacht geleistet hat. Ein Video mit seinen Sangeskünsten geht viral, lässt seine Beziehung zu Thiel erkalten, ja könnte sogar zur Beendigung des Mietverhältnisses führen. Dann sähe sich der Kommissar in einer ähnlichen Lage wie viele Studierende, die in einem Zeltlager hausen. Dieser Umstand könnte auch etwas mit dem Mordmotiv zu tun haben: Der Tote war für die Zimmerbörse vom ASTA zuständig. Zwei Studentinnen (Bineta Hansen, Meira Durand) waren jedenfalls ganz heiß auf ein WG-Zimmer, eine dritte (Luise von Stein) gesteht die Tat: Notwehr nach einer versuchten Vergewaltigung.
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Mit einem Fall voller Ungereimtheiten sehen sich Thiel und Boerne in „Fiderallala“, dem 47. „Tatort“ aus Münster, konfrontiert. Ein falsches Geständnis, dem nach der zweiten Leiche weitere folgen werden. Eine Frage der Wahrnehmung? Der Erinnerung? Mit meinem Drogenmix im Blut erklärt sich so manches; objektives Ermitteln wird dadurch erheblich erschwert. Eine schöne Drehbuchidee: dass die Ermittelnden sich kaum besser erinnern können als die möglichen Tatverdächtigen. Filmrisse am laufenden Band. Der von Boerne setzt komische Akzente, belastet aber die Beziehung von Gerichtsmediziner und Kommissar, die in den letzten Jahren – das führt diese Episode noch einmal deutlich vor Augen – zu einer erwachsenen (Film-)Freundschaft gereift ist. Die wichtigste Frage für die beiden Todesfälle bleibt lange offen: Weshalb gesteht eine junge Frau eine Tötung, obwohl sie es nicht gewesen sein kann? Und weshalb will ein Ex-Fußballstar einen älteren Herrn in seiner Villa umgebracht haben, wo doch alle Fakten gegen ihn als Täter sprechen? Dieser offensichtliche Fehler im Gehirn veranlasst Boerne und Haller (ChrisTine Urspruch) zu einer wissenschaftlichen Versuchsreihe. Auch das ein unterhaltsamer Exkurs, der klug die medizinische Expertise Boernes in eine psychologische Richtung lenkt und damit den Beruf des Gerichtsmediziners im Krimi originell (statt bluttriefend) erweitert. Auch ist es clever, wie die Vorlesungssituation für die Handlung und die Hintergründe der Tat von Drehbuchautorin Regine Bielefeldt genutzt wird.
Wie fein die Erzählmotive in „Fiderallala“ miteinander verwoben sind, wird erst retrospektiv umfänglich erkennbar: Schön, wie beiläufig das Kein-Dach-über-dem Kopf-Problem inklusive des Sex-gegen-Wohnraum-Motivs im Krimi- wie im Thiel/Boerne-Plot mitschwingt, ohne aus dem „Tatort“ gleich einen Themenfilm zu machen. Nicht nur in diesem Punkt hat eine Komödie gegenüber einem ernsthaften Krimi Vorteile. So wird bereits beim Einstieg nicht nur Thiel veräppelt, sondern auch der sonntägliche „Mord nach der ‚Tagesschau‘“ – wobei indirekt auch der Krimi-Fangemeinde die lange Nase gezeigt wird. Und die Sache mit dem falschen Geständnis gibt dem Genre etwas Unerhörtes, Unkonventionelles – was zum „Tatort“ Münster passt, in einem herkömmlichen Krimi(drama) aber überkonstruiert oder oberschlau wirken würde. Und auch die plötzlichen Rollen(wechsel) Boernes, immer schon ein Quell der Komik, sind an Vielfalt und Dichte kaum zu übertreffen: Feierbiest, Gerichtsmediziner mit wachem Geist nach exzessiver Feier, praktizierender Uni-Professor, ein peinlich berührtes Häuflein Elend, plötzlich „als beliebtester Professor der Universität“ sich selbst zu Phoenix aus der Asche hochstilisierend, der enttäuschte Freund (warum habe Thiel ihn nicht eher gestoppt?), der Racheengel, der seine schriftliche Kündigung allerdings alsbald bereut und alles versucht, diese rückgängig zu machen (wann hat sich jemals der egomanische Boerne zweimal lauthals bei Thiel entschuldigt?).
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Aber auch an der Oberfläche bietet „Fiderallala“ reichlich Grund zur Erheiterung. Das beginnt mit dem nächtlichen Abschleppdienst durch „Vadder“ Thiel (Claus D. Clausnitzer) nach der Party. Der eigentliche Spaß des Abends wird den Zuschauern allerdings nachgereicht: Boernes Nachtigallen-Singsang vor versammelter Studentenschaft – und Thiel, der feixend danebensitzt. Die mundfaulen Statements verschiedener Studierender am nächsten Tag flott gegeneinander zu schneiden, ist bei Massenbefragungen auch in deutschen Krimis seit längerem State of the Art, ihnen allerdings auch noch Boernes Erkenntnisse über den Todesfall per Vorlesung beizumischen, ist eine gute Variation der üblichen Ermittlungsabläufe: Der Zuschauer ist im Bilde, nur Thiel fühlt sich vom Professor unterinformiert. Letzteres fügt sich gut ein in das insgesamt angespannte Verhältnis zwischen dem Professor und dem Kommissar. Für eine flüssige Fall-Auflösung sorgen am Ende zwei erzählökonomisch montierte Verhöre.
Dramaturgisch clever ist auch das zeitlich geschickt ausgereizte Wissensgefälle zwischen den beiden: Der Zuschauer ist Boernes Komplize. Dieser hat die Kündigung in Thiels Briefkasten geworfen, will sie allerdings zurücknehmen, als er erfährt, dass seine Beliebtheitskurve über Nacht rasant gestiegen ist. „Ein Dach über dem Kopf, das ist schon viel wert“, bemerkt Thiel angesichts der Schlangen von Wohnungssuchenden. „Merken Sie sich das Gefühl“, rutscht es Boerne heraus. Bis dahin hat er es nicht geschafft, mit allerlei Hilfsmitteln, das Schreiben aus dem Briefkasten herauszufischen. Seine vergeblichen Versuche sind die komischsten Momente in den neunzig Minuten. Ansonsten gibt es wenig vordergründige Lacher, das Irrwitzige steckt in der Handlung in Form einer „absurden Schnapsleiche“ und vielen falschen Geständnissen…
Foto: WDR / Thomas Kost