Der Film mit Wolfram Koch und Margarita Broich als Ermittler-Duo ist buchstäblich betrachtet kein Glanzlicht der „Tatort“-Reihe, was allerdings nicht abwertend gemeint ist. Denn 80 Minuten lang ergießt sich kein Sonnenstrahl über die einsame Landschaft der nördlich von Frankfurt am Main gelegenen, dünn besiedelten Wetterau. Bastian Günther und sein vertrauter Kameramann Michael Kotschi („Autopiloten“, „Houston“, „One of These Days“) erzählen von einer einzigen Nacht, die scheinbar harmlos beginnt – mit einem einzelnen Polizisten, der in seinem Streifenwagen nicht recht bei der Sache ist. Die zu schnell fahrenden Autos – da ist es noch hell – lässt Simon Laby (Sebastian Klein) an sich vorbeirasen. Als es dunkel geworden ist, sieht man ihn an einer Tankstelle. Er telefoniert mit seiner schwangeren Partnerin und lässt drei kiffende junge Leute in einem parkenden Auto mit einer schlappen Ermahnung davonkommen. Danach hält er mit seinem Polizeiauto irgendwo im Niemandsland und stellt den Wecker an seiner Armbanduhr auf 6 Uhr morgens (was noch von Bedeutung sein wird). Ein zweites Auto mit zwei Insassen kommt. Der Mann am Steuer, gespielt von Godehard Giese, fragt Laby: „Du bist raus?“ Aufgeflogen sei er nicht, sagt der Polizist, aber: „Es geht einfach nicht mehr.“
Foto: HR / U5 Filmproduktion
Die Einleitung lässt vermuten, dass das nicht gut ausgeht für Laby. Denn die Besetzung mit Godehard Giese ist natürlich ein bisschen verräterisch, allerdings gibt es auch nicht viele Schauspieler, die mit so knappen Mitteln eine derart beängstigende Eiseskälte auszustrahlen vermögen. Aber Giese verschwindet erst einmal von der Bildfläche, der Scheinwerfer richtet sich, wörtlich gesprochen, auf seinen Beifahrer namens Schilling (Niels Bormann). Dieser unwirkliche Lichteffekt des grell angeleuchteten Gesichts ist eines der Stilmittel, mit denen hier die ansonsten niemals aufgeregte oder laute Filmrealität gebrochen wird. In einer Szene scheint sogar im Himmel ein Scheinwerfer angeknipst worden zu sein, der seinen Lichtstrahl direkt auf ein bestimmtes Auto richtet und damit den Blick der Zuschauer:innen unwillkürlich dorthin lenkt – vielleicht auch als wortlose Mahnung: Seht hin! Zumeist bleibt es aber bei der düsteren, grauen bis tiefschwarzen Atmosphäre, was gewiss auch eine Zumutung für das Publikum darstellt. Es empfiehlt sich, das Zimmer, in dem dieser oftmals schwach ausgeleuchtete Film geschaut wird, sorgfältig zu verdunkeln. Allerdings muss man mal wieder die Courage des Hessischen Rundfunks loben, der regelmäßig bereit ist, die Grenzen der Krimi-Reihe auszuloten. Wie zum Beispiel im Murot-„Tatort: Wer bin ich?“, der ebenfalls von Günther und Kotschi stammte und in dem sich der Schauspieler Ulrich Tukur und seine von ihm gespielte Figur höchstpersönlich begegnen, als wären Film und Realität eins.
Foto: HR / U5 Filmproduktion
Diesmal irritieren Günther/Kotschi mit einem ins Fantastische überhöhten Finale. Wobei das Drehbuch zu „Erbarmen. Zu spät.“ durchaus an einen realen, aktuellen Bezug anknüpft, denn auch in Hessen tauschten Polizisten in Chats rechtsextreme Äußerungen und Bilder aus. Außerdem waren geheime Daten für die mit „NSU 2.0“ unterzeichneten Drohbriefe von Polizeicomputern abgerufen worden. Die Verstrickung von Sicherheitsbehörden in rechte Netzwerke hatte zuletzt auch der rbb-„Tatort“ beim Einstand von Corinna Harfouch als neue Berliner Kommissarin zum Thema gemacht – in dem komplexen Zweiteiler „Nichts als die Wahrheit“. Konzeptionell und ästhetisch geht Bastian Günther mit „Erbarmen. Zu spät.“ einen nahezu konträren Weg: Konzentriert auf eine Nacht, wird hier von keiner groß angelegten Verschwörung erzählt und auch nicht der Thrill eines drohenden Anschlags beschworen. Es bleibt bei einer diffusen Bedrohung durch eine Gruppe, von der man kaum etwas erfährt, die aber zu allem entschlossen ist. Gerade dadurch, dass so wenig verraten wird und buchstäblich im Dunkeln bleibt, wird das Gefühl des Unbehagens verstärkt. Die nächtliche Stille, die gedämpft geführten Gespräche, die Abgeschiedenheit der Landschaft, die sanfte, beinahe meditative Musikbegleitung: Der Staatsstreich kommt auf leisen Sohlen, wenn auch ziemlich vollmundig. „Wenn wir wollen, dass es regnet, dann regnet es“, lautet ein Schlüsselsatz des rechten Anführers, den man sich merken sollte.
Was hier auch völlig fehlt, sind typische Elemente wie eine Polizei-Dienststelle, eine Befragung im Verhörraum, die Interaktion zwischen Kommissarin Anna Janneke und Kommissar Paul Brix, die sich in dieser Episode kaum einmal begegnen, und private Nebenhandlungen. Auf Sidekick Fanny wird verzichtet, und Dienststellen-Chef Bachmann (Werner Wölbern) tut sich allein mit einem kuriosen Auftritt als ausgiebiger Feld-Pinkler hervor. Dafür tummelt sich in der Wetterau eine anfangs etwas verwirrende Schar unbekannter Polizistinnen und Polizisten, die bei der Suche nach dem angeblich getöteten Kollegen Simon Laby mithelfen wollen. Schilling, der Beifahrer, war zur Polizei gegangen und hatte gemeldet, er habe gesehen, wie Laby getötet und in der Erde verscharrt worden sei. Brix, der selbst zurzeit ohne Führerschein ist, lässt sich mitsamt Schilling von Acker zu Acker kutschieren, doch der Informant findet Tatort und Leiche nicht wieder. Ermittlungen im Umfeld Labys bringen die Polizei schließlich auf die Spur zu einem alten Freund von Brix aus gemeinsamen Zeiten bei der Sitte: Radomski, preiswürdig gespielt von Godehard Giese. Auf eine leise Art wird es sehr ungemütlich in Dunkeldeutschland. (Text-Stand: 12.8.2023)
Foto: HR / U5 Filmproduktion