Tatort – Der Fall Holdt

Furtwängler, Stadelmann, Braren, Anne Zohra Berrached. Lindholm kriegt Double

Foto: NDR / Marion von der Mehden
Foto Thomas Gehringer

In „Der Fall Holdt“ (ARD/NDR, Nordmedia) wird Kommissarin Lindholm durch eine Gewalterfahrung aus der Bahn geworfen und muss sich dennoch um die Entführung einer Bankiers-Gattin kümmern. Autor Jan Braren orientiert sich eng an dem realen Fall Maria Bögerl und spinnt daraus ein Drama über Polizei-Versagen und die verheerenden Folgen von Gewalt. Der von „Tatort“-Debütantin Anne Zohra Berrached konsequent und packend inszenierte Film ist einer der besten aus der NDR-Reihe mit Maria Furtwängler, die in ihrem 25. Fall neben Aljoscha Stadelmann eine ungewöhnlich intensive, berührende Vorstellung abliefert. Dass der Film ohne eindeutige Auflösung endet, macht ihn äußerst realistisch.

Die Last einer Gewalterfahrung schleppt Lindholm durch den Film
Ein ausgelassener Abend in einem Club endet schlimm: Charlotte Lindholm wird von drei Männern geschlagen, getreten und bespuckt. Noch nie hat man die LKA-Kommissarin aus Niedersachsen an Leib und Seele derart verletzt gesehen wie in „Der Fall Holdt“: Die Last der Gewalterfahrung schleppt sie mit durch diesen Film, der von der Entführung einer Bankiers-Gattin handelt. Lindholm hat Schmerzen, ist geschwächt, übermüdet und gereizt. Sie kanzelt ihre Assistentin Frauke Schäfer (Susanne Bormann) ab und macht selbst Fehler. Es ist der 25. „Tatort“-Film mit Maria Furtwängler – und einer ihrer besten. Die Figur wird hier an ihre Grenzen geführt, darf auch unsympathisch und „außer sich“ sein. So kommt es, dass man in „Der Fall Holdt“ eine der populärsten Schauspielerinnen des Landes ein wenig neu entdecken kann: Die häufig reserviert und bisweilen etwas teilnahmslos wirkende Maria Furtwängler kann, wenn es die Rolle hergibt und sie entsprechend gefordert wird, eine ausgesprochen berührende Performance abliefern.

Tatort – Der Fall HoldtFoto: NDR / Marion von der Mehden
Fassungslos, unberechenbar, völlig neben der Spur. Für den Leiter einer Bank hat sich Frank Holdt (Aljoscha Stadelmann) ausgesprochen schlecht im Griff. Gibt es etwas, was Lindholm wissen sollte? Warum der Alleingang bei der Geldübergabe?

Atmosphäre aus Abgeschiedenheit, familiärer Enge und drohendem Unheil
Eine „Tatort“-Debütantin hat dies aus der prominenten Mimin herausgekitzelt: Die schon mit einem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Anne Zohra Berrached legt nach nur zwei Langfilmen („Zwei Mütter“, „24 Wochen“) einen bemerkenswerten Einstand in die deutsche Top-Krimi-Reihe hin. Ohne außergewöhnliche Mätzchen, aber mit einer klaren Idee hat Berrached das Buch von Jan Braren („Homevideo“) umgesetzt. Ihre Inszenierung ist packend realitätsnah und schafft zugleich an dem Schauplatz, einer Villa mitten im winterlichen Wald, eine besondere Atmosphäre aus Abgeschiedenheit, familiärer Enge und drohendem Unheil. Die Gewalt wird hart, aber nicht unangemessen brutal in Szene gesetzt. Schließlich geht es auch darum, glaubwürdig von den verheerenden Folgen eines Gewaltakts zu erzählen – in der Familie des Entführungsopfers und bei der Kommissarin selbst, die im ganzen Film nicht über die erlittene Erniedrigung und die eigenen Schamgefühle sprechen kann.

Der Bankier – eine aufbrausende Jammer-Gestalt
Beinahe noch in den Schatten gestellt wird Furtwänglers Leistung durch Aljoscha Stadelmann, der Frank Holdt spielt, den Filialleiter einer Bank. Dieser Holdt ist ein unsympathischer, irgendwie verschwommener Typ, der unter Stress häufig die Kontrolle verliert, eine larmoyante Jammer-Gestalt, die im nächsten Moment aufbrausend und gewalttätig sein kann. Ganz ohne Worte wird der Zustand der Holdtschen Ehe zu Beginn erzählt: Schweigend gehen der Bankdirektor und seine Frau Julia (Annika Martens) ihren Morgenbeschäftigungen nach – zwei Menschen, die aneinander vorbei leben und jede Berührung vermeiden (während der Gatte ausgiebig den gemeinsamen Hund herzt). Es ist der Morgen der Entführung: Julia wird auf der Fahrt zum Reitstall von zwei maskierten Männern im Wald gestoppt und überwältigt. Als Frank früher als üblich nach Hause kommt, findet er ein Paket mit einem Haarschopf Julias vor. Kurz darauf rufen die Entführer an, fordern 300.000 Euro, die in wenigen Stunden übergeben werden sollen. Frank bittet seine Schwiegereltern (Ernst Stötzner, Hedi Kriegeskotte) um Hilfe. Es kommt zum Streit und zu einem Alleingang des Bankiers, der ihn ziemlich verdächtig aussehen lässt.

Tatort – Der Fall HoldtFoto: NDR / Marion von der Mehden
Frank Holdt neigt zu Gewalttätigkeiten; sein Sohn will es nicht glauben. Aljoscha Stadelmann, Moritz Jahn

Konsequent: Der Film endet ohne eindeutige Auflösung
Dass Entführer mit einer nicht unterdrückten Telefonnummer anrufen und deshalb zurückgerufen werden können, erscheint etwas ungewöhnlich. Aber in der Wirklichkeit geschehen ja die ungewöhnlichsten Dinge. Die „Tatort“-Folge „Der Fall Holdt“ sei durch verschiedene Entführungsfälle inspiriert, sagen Regisseurin Berrached und NDR-Filmchef Christian Granderath unisono. Tatsächlich sind die Parallelen vor allem zu einem bis heute nicht aufgeklärten Verbrechen besonders groß: Im Mai 2010 war in Heidenheim/Baden-Württemberg die Bankiersgattin Maria Bögerl entführt worden. Knapp einen Monat später fand man ihre Leiche. Zeitweise gerieten aufgrund von Ermittlungspannen der Polizei Familienmitglieder in Verdacht. Drehbuch-Autor Braren orientiert sich eng an dem Fall, hat aber auch wichtige Details verändert und spinnt daraus ein Familiendrama, ohne eine vermeintliche Wahrheit über die realen Vorgänge in den Raum zu stellen. „Der Fall Holdt“ gehört also zu jener Sorte Krimis, die das Publikum ohne eindeutige Auflösung entlassen. Das kann man unbefriedigend finden, ist aber nur konsequent. In dem Film solle „das katastrophale Scheitern einer polizeilichen Ermittlung“ in den Mittelpunkt rücken, sagt Braren. „Die Opfer eines Verbrechens, das wie eine Naturkatastrophe über die Familie hereinbricht, werden durch die Polizeiarbeit ein zweites Mal zu Opfern gemacht. Die Kommissarin wird zur Antiheldin. Ein solches Scheitern wird viel zu selten erzählt im krimistarken deutschen Fernsehen, zumal in Reihen wie dem ,Tatort‘.“ Sogar die Spurensicherung ist hier mal ein Hort plumpen Versagens. Wie Lindholm die Truppe am Entführungs-Tatort im Wald zusammenfaltet, belegt jedoch zugleich ihre Dünnhäutigkeit. Auch das Scheitern ist in „Der Fall Holdt“ ein komplexer Vorgang.

Tatort – Der Fall HoldtFoto: NDR / Marion von der Mehden
„Schauen Sie sich mal an. Sie sehen aus wie ein gerupftes Huhn.“ Schwer gezeichnet und mitgenommen als Opfer einer Gewalterfahrung. Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) – und dann auch noch dieser vermaledeite Fall.

Charlotte Lindholm und ihr jüngeres Ebenbild
Der NDR macht überdies seiner Kommissarin zum Jubiläum ein recht uncharmantes Geschenk: Susanne Bormann wird wie ein jüngeres Lindholm-Double zurechtgemacht – bis hin zur gleichen Bluse, die beide Frauen tragen, und der bei der nachträglichen Farbkorrektur angeglichenen Haarfarbe. Diese etwas befremdliche Spiegelung hat durchaus ihre Funktion in der Handlung und ist mehr als nur ein selbstironisches Spiel mit dem Altern der Reihen-Figur und der prominenten Schauspielerin. Auch hier bleibt der Film konsequent: Unter den Frauen entwickelt sich ein Konkurrenzkampf, was die Ermittlungen nicht gerade erleichtert. Während Lindholm immer weiter abbaut, gewinnt Schäfer immer mehr Oberwasser. Erzählt wird dies geschickt aus Lindholms Perspektive, die irritiert mit ansieht, wie Schäfer mit LKA-Chef Kohlund (Stephan Grossmann) zu flirten scheint. Oder die belauscht, was man so über sie auf der Toilette redet. Und wie der Film beginnt, so endet er auch, mit einem männlichen Gewaltakt: „Schauen Sie sich mal an. Sie sehen aus – wie ein gerupftes Huhn“, hält Kohlund der aufgelösten Kommissarin vor. Dass die alleinerziehende Mutter – Lindholms Sohn taucht in dieser Folge nicht auf – erschöpft in die Arme ihres Freundes Henning (Adam Bousdoukos) flüchtet, erscheint nachvollziehbar. Aber ein weniger versöhnliches Ende hätte es auch getan.

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Reihe

NDR

Mit Maria Furtwängler, Aljoscha Stadelmann, Susanne Bormann, Ernst Stötzner, Hedi Kriegeskotte, Stephan Grossmann, Annika Martens, Moritz Jahn, Adam Bousdoukos

Kamera: Bernhard Keller

Szenenbild: Janina Schimmelbauer

Schnitt: Denys Darahan

Musik: Jasmin Reuter

Redaktion: Christian Granderath, Christoph Pellander

Produktionsfirma: Nordmedia

Produktion: Kerstin Ramcke

Drehbuch: Jan Braren

Regie: Anne Zohra Berrached

Quote: 10,22 Mio. Zuschauer (28,1% MA)

EA: 05.11.2017 20:15 Uhr | ARD

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