Kommissar Steier ist völlig von der Rolle. Nach einer durchzechten Nacht wird er eines Morgens im Stadtpark Zeuge eines Mordes. Nicht nur, dass er die Täterin entkommen lässt, auch seine Erinnerung an die junge Frau ist schwach. Den Fall übernimmt Kollege Seidel. Steier muss indes einem anderen Mord nachgehen: ein Mann hängt in einem Sack an einer Main-Brücke – auch er erstochen. Steiers Hauptinteresse gilt allerdings dem Jogger-Mord. Aus persönlichen Gründen. Der Tote war Lehrer in der Schule, in der auch Steiers Ex-Frau unterrichtet. Dass sie einen neuen Freund hat und glücklich mit ihm ist, öffnet dem Kommissar ein weiteres Recherchefeld: Wer ist dieser Mann? Ist der nicht viel zu jung? Und was macht dieser Lars, der angeblich für eine Rentenkasse arbeitet, im Hotel mit Piloten-Uniform und attraktiver Frau im Arm? Und was hat er nachts im Rotlichtviertel verloren?
Foto: HR / Bettina Müller
Kunzendorfs Conny Mey ist weg. An ihrem Platz sitzt nun dieser bräsige Erik Seidel – wenn das kein Grund zum Saufen ist!? Und so bekommt Joachim Król sein erstes von zwei Solos, bevor auch für ihn beim „Tatort“ in Frankfurt Schluss ist. Assistiert wird seinem abgrundtief frustrierten Hauptkommissar in „Der Eskimo“ von einer Kriminalkommissarsanwärterin. „Was machen Sie hier eigentlich – Schülerpraktikum?“, ist sein erster Satz, den er für jene Linda Dräger übrig hat. Die wird von Alwara Höfels im Kunzendorfs Mey-Modus gespielt, also frisch, selbstbewusst, aber durchaus mit Respekt für das kantige Ekel. Doch irgendwann ist es genug mit dem Herumgeschubse, der Chauffiererei und der üblen Laune. „Kotzen Sie sich nicht manchmal selber an?“ Von da an provoziert Steier die Kollegin seltener. Denn er kann wieder Autofahren und macht auch sonst alles wieder selbst. Das hat auch dramaturgische Gründe: Steier gerät ins Visier der Mörderin aus dem Park. Mit einem Kommissar, der Alleingänge bevorzugt, ist das Spannungspotenzial ungleich höher. Und so knallt eines Nachts ein Baseballschläger gegen Dach und Scheiben von Steiers Dienstwagen – und er sitzt drin’.
Foto: HR / Bettina Müller
Wer eine Figur wie Steier entwickelt hat und als Schauspieler auf einen Joachim Król setzen kann – der tut gut daran, diese Pfunde nicht an einen gewöhnlichen Whodunit zu verschwenden. Und so erwächst die Story von „Der Eskimo“ mehr aus dem Charakter, als dass ein Krimiplot an diesen herangetragen würde. Dieser Kommissar hat seine eigene Logik. Und so tickt dann auch dieser „Tatort“. In dem Film von Achim von Borries erfährt man über den Einzelgänger mit Hang zum Wodka mehr als in den fünf Filmen zuvor. Seine Ex-Frau taucht auf. Auch wenn es weder ausgesprochen noch explizit angedeutet wird: Sie bedeutet ihm immer noch sehr viel. Diese Szenen zwischen dem unglaublich nuancierten Król (der ja immer auch den Alkoholiker mitspielen muss) und der nicht minder überzeugenden Jenny Schily, diese Miniaturen einer verlorenen Liebe, sind die eindringlichsten Bilder dieses Films. „Der Eskimo“ ist ein Stück über gebrochene Menschen, egal ob Kommissar oder Täter.
Die Krimihandlung funktioniert in diesem HR-„Tatort“ mehr nach dem Assoziationsprinzip als nach den Regeln von Logik und Glaubwürdigkeit. Es ist die Geschichte eines Wahn-Sinns. Sie wird entsprechend kryptisch erzählt – und wer passt besser in so eine Story als die US-Army. Und so finden sich Steier und die Zuschauer wieder in einer wilden Entwicklungsgeschichte mit einem schrecklichen Vater, seltsamen Beziehungen und bizarr ausgelebten Phantasien. Und auch mit skurrilen popkulturellen Verweisen wartet der atmosphärisch starke, in einem nächtlichen Showdown gipfelnde Film auf: Der zweite Tote nennt sich Gregor Samsa – da muss sogar mal der genervte Steier schmunzeln. Zu Mishima, dem japanischen Kultschriftsteller, und seinem Harakiri, den der Tote an der Main-Brücke imitiert hat, darf die Kommissarsanwärterin assistieren, und der Titel gebende Eskimo ist der aus dem Song „Mighty Quinn“, bei dem Steier so richtig ausflippen kann. (Text-Stand: 9.12.2013)