In den 00er Jahren waren Bienzle, seine Fälle und die Filme dazu der Inbegriff des „Tatorts“ von gestern: Langsam erzählte Rätselkrimis mit menschelnd-moralischer Note waren seit jeher die Spezialität vom Bienzle-Erfinder, dem Vielschreiber Felix Huby. Das war 1992, als der Mann mit Trenchcoat und Hut an den Start ging, schon so – und doch wirkte „Bienzle und der Biedermann“ damals anders. Der „Tatort“ stand damals noch in der Tradition des sozialkritischen Fernsehspiels der 1970er Jahre, sah sich noch nicht von den TV-Movies der knalligen kommerziellen Konkurrenz herausgefordert, suchte stattdessen in Politik und Zeitgeist seine (Aufreger-)Themen. Da war ein Kommissar wie Bienzle, der ziemlich humorlos sein konnte, wenn es um die Sauereien der schwäbischen Geldsäcke und der schwarzen Stuttgarter Politmafia ging, durchaus zeitgemäß. Aber auch stilistisch passte dieser ernsthafte Einzelgänger als Reminiszenz an eigenwillige Kommissare wie Maigret oder Columbo gut in die Zeit. Der Zuschauer von damals empfand den „Tatort“ aus Stuttgart anfangs nicht als altbacken und bieder, dafür sorgten schon die Geschichten (z.B. Wirtschaftskriminalität, Korruption) – und dass sich Sex im „Tatort“ gut macht, wusste man seit Kressin.
In „Bienzle und der Biedermann“ geht es vordergründig um den Export von EU-subventioniertem Fleisch für Osteuropa, das vermutlich mit falschen Haltbarkeitsetiketten nach Deutschland wiedereingeführt wird. Gleich zu Beginn kommt bei einer Grenzkontrolle ein LKW-Fahrer ums Leben; Bienzles Kollege Günter Gächter (Rüdiger Wandel) hatte den Finger nach Dafürhalten seines Chefs etwas zu voreilig am Abzug und wird erst einmal vom Dienst suspendiert. Nun ist es allein an Ernst Bienzle, Licht ins schwäbische Gemauschel zu bringen zwischen der grauen Polit-Eminenz Bossle (Dieter Eppler), dem halbseidenen Anwalt Joachim Dreher (Hanns Zischler) und dem hoch angesehenen Unternehmer Paul Stricker (Rüdiger Vogler), der ausgerechnet ein alter Schulfreund des Kommissars ist. So kommt auch Bienzles Lebensgefährtin Hannelore (Rita Russek) in den zweifelhaften Genuss, bei den Belausch- und Belauerungsaktionen ihres Liebsten dabei zu sein. Denn beide sind eingeladen bei Strickers traditionellem Rehessen, bei dem sich alljährlich die (Polit-)Prominenz trifft.
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Autor Felix Huby interessiert mehr, was und wer hinter dem Subventionsbetrug steckt: das Drama der Familie Stricker, dessen „Oberhaupt“ sich bald als die Titel gebende, tragische Figur von „Bienzle und der Biedermann“ entpuppt. Er solle doch noch bei der Tochter in Stuttgart vorbeischauen, bittet ihn die erwartungsgemäß über die Jahre reichlich frustrierte Gattin (Heide Simon). Tatsächlich wird er jene Cordula (Christina Plate) treffen – allerdings in einem Sadomaso-Etablissement. „Der winselt immer gleich“, weiß die barbusige Oberdomina. Offensichtlich will dieser rechtschaffene, gottesfürchtige Geschäftsmann, den Rüdiger Vogler sichtbar unter seinen Schuldgefühlen leiden lässt, gekettet ans SM-Sklavenkreuz, kräftig bestraft werden für all die Sünden, die ihm der Herr Kommissar am Ende anhängen muss.
In Sachen Spannung ist dem Krimi mit heutigen Sehgewohnheiten nicht viel abzugewinnen. Wer allerdings die Forscherbrille aufsetzt, sich für den Wandel der Gesellschaft, der Dramaturgie und der TV-Erzählformen interessiert, der bekommt reichlich Material für ästhetische Erkenntnisse. Am augenfälligsten ist Hubys wenig differenzierte Frontalkritik an den „christlich-sozialen“ Honoratioren-Spießern im Ländle anno 1992. Krimitechnisch auffallend ist die schwache Inszenierung des Schusswechsels in der Exposition, der – wie es damals üblich war – irgendwie im Schnitt zusammengeschustert wurde. Dass die obligatorische Leiche in den ersten Minuten Opfer eines übereifrigen Kommissars wird und in der Folgezeit kaum eine Rolle spielt, ist für den „Tatort“ zumindest ungewöhnlich. Recht elegant aufgelöst ist dagegen die rund 50minütige Kammerspiel-Situation mit dramatischem Finale, in der jeder jeden beäugt und in der die bürgerliche Fassade mehr als nur bröckelt.
Das Spiel der Schauspieler ist für die frühen 1990er Jahre schon fast cool zu nennen: Dietz-Werner Steck gibt seinen Bienzle als Genre-Figur und weniger volksnah als in späteren Jahren, Zischler verkörpert den süffisanten Lebemensch und Christina Plate gibt attraktiv & erotisch eine Zerrissene, für die Huby allerdings keine Tiefe ins Drehbuch geschrieben hat. Auch die Seelenqualen des Biedermanns, die Vogler, unterstützt von einer bemerkenswerten Lichtdramaturgie, zelebrieren darf, bleiben psychologisch an der Oberfläche. Das ist typisch für das TV-Drama jener Jahre. Viel Behauptung und eine überzogene Bedeutsamkeit, die sich über jede Aktion, jeden Dialog, jeden Gesichtsausdruck legt. Am interessantesten aus heutiger Sicht ist, wie der sexuelle Zeitgeist Eingang in diesen Krimi fand: Gerade hatte Sharon Stone die Beine im Kino breit gemacht, schlug Madonna erste SM-Kapriolen, zogen die „Tutti-Frutti“-Euro-Girls auf RTL blank, und gerade wurde in Hella von Sinnens „Weiber“-Magazin der „Schniedelwutz“ fürs Fernsehen entdeckt. Und so darf denn auch Rüdiger Vogler in besagter SM-Szene mehr zeigen als Plate im sexy-Leder-Dress. (Text-Stand: 2.7.2016)