„Das war kein Raubmord, das war eine Hinrichtung“, sagt Beka Datviani (Lasha Bakradze). Sein Bruder Luka wurde erschossen, nachts vor einem der Clubs des georgischen Clans. Nun stehen Moritz (Harald Krassnitzer) und Bibi (Adele Neuhauser) in seinem Büro, und der Mafia-Boss, der sich als unbescholtener Geschäftsmann gibt und mit höchsten Kreisen in Politik und Wirtschaft verkehrt, bietet den Ermittlern die Zusammenarbeit an: „Wir sind zur Kooperation bereit“. Die Wiener Cops verfolgen zwei Spuren: Entweder hat die Konkurrenz zugeschlagen oder es geht um einen internen Zwist im Haus Datviani. Majorin Brunner (Zeynep Buyrac) von der Wirtschaftskriminalität ist schon lange hinter dem Clan her und hat auch eine V-Frau dort eingeschleust: Azra (Mariam Hage). Moritz kennt sie von früher, hat sie bei einer „Drogengeschichte“ erwischt und dann angeworben. Sie behauptet: Beka hat seinen Bruder getötet. Sie hat die Tat zwar nicht gesehen, hat aber viel mitgekommen und will Beweise besorgen. Mit Hilfe der Polizei, die einige Leibwächter von Beka verhaftet, steigt Azra in den engen Kreis der Leibgarde auf. Als sie aufzufliegen droht, wird sie abgezogen, will aber auf eigene Faust weitermachen. Sie überredet Moritz, ihr dabei zu helfen. Eines Abends taucht er bei Bibi auf mit den Worten: „Ich habe einen Fehler gemacht“. Azra ist verschwunden, entweder wurde sie getötet oder man hält sie irgendwo versteckt. Und so steht ab sofort nicht die Überführung des Mörders im Mittelpunkt, sondern die Suche nach Azra…
Foto: ORF / Felix Vratny
Im „ORF-„Tatort“ dreht man gern am großen Rad. So auch diesmal: Organisiertes Verbrechen, georgische Mafia. Aber Autorin Sarah Wassermair zeigt sich dabei auf der Höhe der Zeit: Clans wollen sich umangreifbar machen, indem sie sich seriös geben und mit den Mächtigen dealen. Der so wunderbar kantige und kauzige Ernst Rauter (Hubert Kramar), seines Zeichens Vorgesetzter von Bibi und Moritz, bringt es auf den Punkt: „ Wenn du jemanden um 200 Euro bescheißt, ist es ein Verbrechen, bei 200 Millionen ist es Politik“. Sarah Wassermair zeigt ein feines Gespür für die Zeichnung dieses Milieus im Wandel, in dem auch ein Kampf zwischen alten und neuen Wegen tobt. Sie erzählt es anhand zweier Brüder eines Clans: Beka und Luka. Letzterer ist der Mann fürs Grobe, der weitermachen wollte wie bisher. Die Autorin hat in jungen Jahren schon viel Erfahrungen mit Krimis gesammelt, sei es bei der ORF-Serie „Janus“ um psychologisch aufgeladene, brutale Gewaltverbrechen, oder der Vorabend-Serie „SOKO Donau“. Auch zwei Landkrimis („Das dunkle Paradies“, „Flammenmädchen“) hat sie geschrieben. Wie in „Flammenmädchen“ so steht auch im „Tatort – Azra“ eine junge Frau im Mittelpunkt: die titelgebende Azra, ein burschikos wirkendes Mädchen, das von der Polizei als Spitzel angeworben wurde. Sie geht voll auf in ihrer Aufgabe, ist tough, frech, mutig. Wenn sie Moritz als Türsteherin erst in den Club lässt, wenn sie das Okay dafür bekommt („schau Puppi, du machst deinen Job und ich mach meinen“), oder wenn sie, um die Leibgarde des Clanbosses zu kommen („ich will in die Leibgarde, dann kann ich liefern“) im Kampfsportstudio zwischen lauter schweren Jungs Bekas Sohn Irakli (Vladimir Korneev) verprügelt („schau, ob du an mir vorbeikommst“) und damit Beka beeindruckt – diese Azra, schlagfertig in jeder Hinsicht, ist eine Figur, an die der Zuschauer emotional andocken kann, mit ihr leidet, mit ihr bangt, und sich doch stets die Frage stellt: Warum macht sie das?
Mariam Hage spielt die Azra enorm körperlich und ausdrucksstark. Und dennoch merkt man, diese Frau hat auch noch eine andere Seite. Aber nicht nur diese Figur prägt den „Tatort“. Was die Wiener Krimis stets auszeichnet: Die Macher haben ein gutes Gespür für die Besetzung abseits der Hauptakteure. Nirgendwo anders besetzt man selbst Nebenrollen so treffend. Klar, auch hier sind die Türsteher meist Glatzköpfe, die Schurken auf den ersten Blick als solche erkennbar, aber die vielen kleinen Figuren wirken nicht ausgestellt, und sie ergeben ein rundes Bild. Wenn Bibi und Moritz im Knast einen Leibwächter des Clan-Chefs Datviani aufsuchen, um ihn zum Reden zu bringen, dann sitzt ihnen keine der üblichen Klischee-Figuren gegenüber, nein, da ist ein Typ, der mit den Ermittlern spielt, keine Standardsätze abspult, sondern aus einer kleinen Szene eine große Nummer macht.
Foto: ORF / Felix Vratny
Regisseur Dominik Hartl bringt bisher keine Krimierfahrung mit, hat sich mit dem Coming-of-Age Drama „Beautiful Girl“, der Zombie-Komödie „Angriff der Lederhosenzombies“ und dem Teen-Slasher „Die letzte Party deines Lebens“ bisher klassischen oder sehr schrägen Genres gewidmet. In seiner Inszenierung treibt er die Spannung enorm voran und verleiht den Settings viel Atmosphäre. Gelungen auch, wie er Azras Alleingang, um an Beweise zu kommen, als Rückblende aus der Sicht eines niedergeschlagenen Moritz erzählt, der in seiner Verzweiflung bei Bibi Trost sucht. Aber auch auf weiche Töne versteht sich Hartl. In einer intensiven Szene auf einem Hausdach sind sich die Ermittler so nah wie noch nie in 33 „Tatort“-Episoden. „Wenn du ein Idiot bist, dann bin ich auch einer, aber dann hab ich das Recht mit dir zusammen ein Idiot zu sein, ich meine, das ist doch die Basis“, sagt Bibi, dann umarmen sie sich. Und als Moritz nach seinem Alleingang bei seinem Chef in der Kritik steht, sagt sie liebevoll: „Komm Ernstl, lass ihn“. Als der entgegnet: „Ich wüsste gerne, was er tun muss, damit du ihn nicht mehr in Schutz nimmst“, sagt Bibi nur ein Wort: „Sterben“.
Punktgenaue Dialoge, eine enorm packende, wendungsreiche Geschichte, eine gut temperierte Inszenierung und eine Hauptfigur, die einen mitnimmt – der „Tatort: Azra“ ist wieder mal ein sehr starkes Krimi-Stück aus Wien und es stürzt das liebenswerte Duo am Ende in einen tiefen Konflikt. Wofür sollen sie sich entscheiden: Recht oder Gerechtigkeit? Ansehen lohnt sich – und das bis zur letzten Sekunde. Wenn Moritz sagt: „Okay, gibt eh nur eines, was wir tun können“, und er Bibi wortlos mit der Hand an ihren Gürtel fasst… Warum? Einschalten!