Der Untergang des Hauses Holzer
Eine explosive Stimmung herrscht in München. Die Weltstadt mit Herz steckt in einem dicken Bau- und Korruptionsskandal. Das traditionell gewachsene Westend, ein Zuwanderer-Viertel, das lange Zeit von der Gier der Großkopferten verschont geblieben ist, soll für Leute mit Kaufkraft attraktiv gemacht werden. Die Folge: Baulärm, aufgebrachte Bewohner, der erste Selbstmord. Kommissar Leitmayr bekommt die Folgen des Immobilien-Hypes am eigenen Leib zu spüren. Wegen eines Wasserschadens in seiner Wohnung muss er vorübergehend im Westend Zuflucht suchen. Und dann ruft die Arbeit: Im Aushub einer Baugrube wird ein seit Monaten vermisster Mann gefunden. Es ist der Adoptivsohn der einst legendären Zirkus-Prinzessin Magda Holzer alias Calamity Jane. Die egozentrische Dame residiert mit Sohn und Gefolgschaft in einer Villa am Isarufer. Einige von ihnen scheinen etwas mit den Westend-Machenschaften zu tun zu haben. „Event Circus“ heißt das Unternehmen, das die Interessen von Firmen und Behörden erfolgreich zu koordinieren weiß. Doch die Show ist vorbei.
Foto: BR / Frederic Batier
„Was ist denn hier los?“
Schaut auf diese Stadt. München ein Tollhaus, ein Zirkus zwischen großer Inszenierung und seelischer Verrohung. Dominik Graf führt „seine“ Stadt gleich entsprechend ein in seinem zweiten BR-„Tatort“ und er macht unmissverständlich deutlich, wer die Hauptrolle spielt in „Aus der Tiefe der Zeit“. Da er auch seine Schauspieler liebt, was in diesem Film zwischen wilden Schnitten untergehen könnte, werden deren Konterfeis über die flirrenden Stadt-Ansichten projiziert. Und dann sieht man den entnervten „Franz“ durchs besagte Viertel kurven. Lärm, Einbahnstraßen, völliges Chaos. „Hier sind überall Baustellen. Was ist denn hier los?“, fragt er den Freund am Handy. Der Zuschauer, der „Tatort“-gemäß die erste Leiche erwartet, wird sich ähnlich wundern. Was haben die abgerissene Schule und die Anhörung des Baureferatsbevollmächtigten mit dem suchenden, fluchenden Leitmayr zu tun? Auch wenn Graf dem Zuschauer gleich zu Beginn die Informationen nur so um die Ohren knallt, man muss sich gedulden: die disparat präsentierten Teile werden später zusammengefügt, das Puzzle bekommt Konturen – nach der ersten Leiche, nach dem ersten Besuch im Hause Holzer, nach der zweiten, nach der dritten Leiche, nach dem Besuch bei „Heesters“…
Foto: BR / Frederic Batier
Drei Filme in einem einzigen „Tatort“
Dieser „Tatort“ ist ein harter Brocken. Andere hätten drei Filme daraus gemacht: 1. ein morbides Krimidrama um eine Alptraum-Familie, die ihren Wohlstand auf eine schreckliche Tat aufgebaut hat; 2. einen Gesellschaftskrimi, in dem die Straße gegen die Paläste mobil macht; 3. einen machtpolitischen Beziehungsreigen, in dem Lebenslügen und moralische Bedenken in berechnende Leidenschaft umgemünzt werden. Das vorgestrige Szenario gehört der unnachahmlichen Erni Mangold, die gesellschaftspolitische Gier ist auf mehrere Schultern verteilt, und die Klaviatur der Verstellung bespielt Meret Becker aufs Vortrefflichste. „Aus der Tiefe der Zeit“ taugt nicht für den sonntäglichen „Tatort“-Kult, der Film ist nichts für die Spaßgesellschaft. Er entspringt dem Geist einer ganz anderen Zeit. An diesen 90 Minuten muss man – um einen typischen Begriff der 60er/70er-Jahre zu benutzen – „sich abarbeiten“. Sich abarbeiten an Beziehungen, sich abarbeiten an Gesellschaft, sich abarbeiten am Film.
Foto: BR / Frederic Batier
Faszinierend und anstrengend zugleich
Nach dem allseits und allzeit gelobten „Tatort – Frau Bu lacht“ kann ein Dominik Graf keinen normalen Sonntagskrimi machen. Mit seinen „Polizeirufen“, den beiden Grimme-Preis-gekrönten mit Edgar Selge, Nina Kunzendorf und Rosalie Thomass, und dem furiosen Einstand von Matthias Brandt deutete er das bereits an. Und wer einen gesellschaftlich brisanten und ästhetisch brillanten Film wie „Das unsichtbare Mädchen“ gedreht hat, kann danach erst recht nicht einen „nur“ guten Polizeifilm abliefern. Den Weg, den Graf seit „Frau Bu lacht“ im Genre dramaturgisch geht, ist der Weg der Dekonstruktion: mit seinen Autoren zerlegt er die gängigen Bausteine der Krimidramaturgie, zerschneidet lineare Handlungsfäden, gelegentlich zertrümmert er den raumzeitlichen Szenen-Aufbau und die Montage setzt er fast so unkonventionell ein wie die Bilderstürmer der 60er Jahre. Dominik Graf scheint davon besessen, alles irgendwie anders machen zu müssen. Das fasziniert – und ist anstrengend zugleich. Er tritt nicht an, um ein liebgewonnenes Krimi-Ritual zu bedienen. „Abarbeiten“, das gilt auch für den Fall und für die Kommissare. Reales Ermitteln gehorcht nicht unbedingt den Regeln klassisch guter Dramaturgie. Bei Autor Bernd Schwamm ist Unberechenbares im Spiel: Zufall, Intuition, Eingabe. „Heesters“, ein Eintrag im Kalender eines toten Friseurs, der dritten Leiche, bringt den Fall ins Rollen – in eine ganz neue Richtung: plötzlich erschüttert ein Ereignis aus der Vergangenheit die Ermittlungen um drei aktuelle Todesfälle.
Es bröckelt mehr als nur die Fassade
Es ist nicht der handelsübliche Schatten der Vergangenheit, dessen Bezug zur Gegenwart nur großspurig behauptet wird wie in vielen mittelprächtigen Krimidramen, im „Tatort – Aus der Tiefe der Zeit“ tritt dieser Schatten sinnbildlich auf: die Villa der Holzers ist instabil zur Isarseite hin; hier bröckelt nicht nur die Fassade, hier ist das ganze Fundament brüchig. Die Protagonisten stehen auf schwankendem Boden. Da passt es durchaus, dass Dominik Grafs Filmsprache 90 Minuten lang mitwirbelt und so den Zuschauer in einen Mahlstrom geraten lässt. Konstatiert werden muss, dass dieser Mahlstrom keinen suggestiven Sog erzeugt, wie man ihn von anderen Graf-Filmen („Eine Stadt wird erpresst“ oder seinen „Sperlings“) oder seinem 10-teiligen Opus Magnum „Im Angesicht des Verbrechens“ her kennt. Spürbar ist in diesem Film ein anderer Zauber – gepaart aus Staunen (das beim zehnfachen Grimme-Preisträger immer auch ein bisschen Be-Staunen ist) und Irritation, weitgehend kopfgesteuert, aber mit der sinnlichen Wucht, die man von diesem Regisseur kennt. München, ein Zirkus, alles dreht sich, alles bewegt sich – und das Blut spritzt. (Text-Stand: 30.9.2013)