Ältere Fernsehfreunde werden sich erinnern: Martin Walser, der streitbare Schriftsteller vom Bodensee, hat neben diversen Theaterstücken auch einige Drehbücher geschrieben, darunter mit den humorvollen Geschichten über Tassilo S. Grübel (Bruno Ganz) 1991 sogar eine Detektivserie („Tassilo – Ein Fall für sich“). Politisch interessierte Menschen assoziieren Walsers Namen unwillkürlich mit dem Begriff „Moralkeule“ und seiner Rede in der Paulskirche 1998, als er sich gegen die Instrumentalisierung des Holocaust wandte. Vor diesem Hintergrund kann sein einziges „Tatort“-Drehbuch in ganz anderem Licht betrachtet werden, als es den Zuschauern bei der Erstausstrahlung im Sommer 1989 möglich war. Die Geschichte handelt von Valentin Sander (Juraj Kukura), einem Mann, der als Zigeunerkind dank der Fürsorge eines Ehepaars die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt hat. Auch über vierzig Jahre später aber hat er seinen Platz im Leben noch nicht gefunden. Den Zigeunernamen Nanosh lehnt er ebenso ab wie den Wunsch seiner Sippe, die Nachfolge seines Onkels als Anführer anzutreten. Statt dessen setzt er aus Liebe zur Künstlerin Ragna (Krößner) seine Familie ebenso aufs Spiel wie das von den Adoptiveltern geerbte Kaufhaus.
Für gewöhnlich kann man im Krimi die Zeit, die bis zum Mord vergeht, als Einführung betrachten. In diesem Fall dauert das ungewöhnlich lange: Etwa zur Hälfte des Films wird Ragna Juhl erstochen, und nun taucht auch erst das Hamburger Ermittlerduo Stoever und Brockmöller (Manfred Krug, Charles Brauer) auf; deren Flapsigkeiten passen prompt zunächst nicht zu dem Tonfall, den Walser und Ko-Autorin Asta Scheib (auch sie in erster Linie Schriftstellerin) ihrer Geschichte bis dahin gegeben haben. Aber dafür kommt nun eine Meta-Perspektive ins Spiel. Bis dahin ist „Armer Nanosh“ ein von viel Impulsivität geprägter Liebesreigen mit der Künstlerin als emotionales Epizentrum: Nicht nur Sander, auch sein Sohn Georg (Imanuel Grosser) fühlt sich unwiderstehlich von Ragna Juhl angezogen, und ein betuchter Kunstsammler (Klaus Barner) ist der Meinung, mit dem Kauf eines Bildes auch den Zugriff auf die Künstlerin erworben zu haben. Mit ihrem schulterfreien signalroten Kleid ist Krößner ohnehin mehr Vamp als Malerin. Im Krimi wird so was gern mit dem Tod bestraft, weshalb es nicht weiter überrascht, dass sie einer der Verehrer sie irgendwann ersticht.
Selbstredend deutet alles auf den eifersüchtigen Sander hin, zumal er schon mehrfach öffentlich gewalttätig geworden ist. Andererseits fragen sich die Kommissare vor dem Hintergrund der damals aufkommenden politischen Korrektheit, ob dies schon einer Vorverurteilung gleichkommt: Wer wird als erster verdächtigt? Natürlich der Zigeuner. In der zweiten Hälfte gelingt dem Autorenpaar das Kunststück, diese Meta-Ebene glaubwürdig mit der Krimihandlung zu verknüpfen: In der Hoffnung, dass sich der bei seiner Sippe untergetauchte Valentin stellt, verhaften Stoever und Brockmöller seinen Sohn. Gleichzeitig rückt aber mit Sanders Prokurist eine Randfigur immer stärker in den Mittelpunkt. Dieser Frohwein entpuppt sich als reizvolle Persönlichkeit, zumal Edgar Selge, dessen TV-Karriere erst in den Neunzigern richtig begann, den Mann entsprechend vielschichtig verkörpert. Für den Krimi ist wichtig, dass Frohwein leidenschaftlicher Hobbyfilmer ist; auf diese Weise kann er ungestraft seinen Sozialvoyeurismus ausleben. Für die Meta-Ebene aber ist ein biografischer Aspekt viel entscheidender, und nun kommt die „Moralkeule“ ins Spiel: Frohweins Vater war als Polizist in Krakau stationiert, ist nach dem Krieg verhaftet worden und im polnischen Gefängnis gestorben, und nun ist der Sohn überzeugt, dass es nach Auschwitz keine Gerechtigkeit mehr geben kann. Ein weiterer Satz von Frohwein ist von bemerkenswerter Aktualität: Am liebsten würde er alles und jeden filmen und jederzeit Zugriff auf sämtliche Informationen haben, denn „mehr Information ist mehr Macht“.
Misst man „Armer Nanosh“ an den auch vor 25 Jahren schon gültigen Maßstäben des Sonntagskrimis, sind die verhaltenen bis ablehnenden Reaktionen verständlich. Aber der keineswegs konstruiert wirkende Überbau macht den von Stanislav Barabas bildsprachlich unauffällig umgesetzten Film zu einem faszinierenden Fernsehspiel. (Text-Stand: 2015)