Eine junge Frau steht in Flammen. Der Täter: ein Kind. Für Bibi Fellner und Moritz Eisner ist dieser perfide Fall schneller erklärt als aufgeklärt: wie soll man auch den Täter, einen kaltblütigen bulgarischen Zuhälter, überführen, der sich an einer Ex-Prostituierten rächt, wenn er für die Tat einen Zwölfjährigen gedungen hat? Bibi ist am Boden; die Polizistin, die jahrelang im Sittendezernat Dienst tat, macht sich Vorwürfe. Sie hatte der Zeugin einst versprochen, sie zu schützen. Und jetzt hat sie ihren Hilferuf per Handy tragischerweise einfach weggedrückt. Ihre Wut auf die Gegenseite kann die Kommissarin kaum bändigen. Eisner muss gelegentlich dazwischen gehen. Aber er versteht seine Kollegin, findet, dass sie recht hat. 6000 Illegale, die in Wien unter Sklavenbedingungen anschaffen gehen – und die Polizei guckt weg. Und auch der Junge, der offenbar so eiskalt die Frau, die seine Mutter sein könnte, in eine lebende Fackel verwandelt hat, tut Bibi leid. Nachdem sie seine Biografie kennt, nimmt sie sich seiner an, verstößt gegen das Gesetz und bringt sich in Lebensgefahr.
„Ich brauche wahrscheinlich zehn Leichen, um etwas zu spüren“, analysiert sich Bibi Fellner zu Beginn der „Tatort“-Episode „Angezählt“ während einer Therapiesitzung. In dem Fall, der sie in ihre schwere Zeit bei der Sitte zurückkatapultiert, bedarf es nur einer Toten – und die Heldin ist ganz Mensch, verletzlich, zornig, empfindsam und voller Tatendrang. In einer der schäbigsten Gegenden von Wien treibt sie sich herum, lässt sich in einer Anbahnungskneipe betatschen und mischt den Laden anschließend auf, rabiat und gleichsam mit Wiener Schmäh. Sie wird von Alpträumen geplagt – und dass ihr der 12-jährige Ivo, ein verstoßenes Kind, so sehr ans Herz wächst, hat auch viel mit ihrer eigenen verkorksten Lebensgeschichte zu tun.
Wenn Privatleben gewohnheitsmäßig in die Fälle einfließt (gern macht man’s im „Tatort“ Köln, Leipzig oder Hannover), dann leiden in der Regel die Plots darunter. Gerät ein Kommissar mittenrein ins Zentrum des Falls – sei es beispielsweise als Verdächtiger oder als Staatsdiener, der das Recht im Sinne der Humanität beugt – dann kommen häufig gelungene Krimis dabei heraus. Meist erzielt das Genre in diesen Filmen einen Punktsieg über die sogenannte „Wahrscheinlichkeit“. Beim ORF-„Tatort – Angezählt“ liegt der Fall anders. Wie sich der österreichische „Tatort“ bereits in den letzten Episoden darum bemühte, den ethnischen Schmelztiegel Wien ins Zentrum zu rücken, so steht im sechsten Fellner-Eisner-Fall, der gleichzeitig der 30. Krassnitzer-„Tatort“ ist, der nahezu aussichtslose Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution, betrieben von Bulgaren, die junge Frauen mit falschen Versprechungen in den goldenen Westen locken, im Mittelpunkt der Handlung.
Ob Wien tatsächlich so eine Art illegales osteuropäisches Bordell ist (unlängst flog tatsächlich ein bulgarischer Menschenhändlerring auf) – sei einmal dahingestellt. Die große Qualität von „Angezählt“ liegt nicht im Realismus des Stoffs, sondern in einem Charakter-Realismus, der sich im Detail in der rauen Filmästhetik, den markanten, authentisch wirkenden Gesichtern (nicht diese tot gefilmten, vermeintlichen Spitzenkräfte des deutschen Fernsehens) und der rüden Darstellungsweise spiegelt, der aber vor allem getragen wird von einem dramaturgischen Konzept, das sich über die besagten sechs Fälle zieht. Fellner und Eisner sind zum – derzeit – besten „Tatort“-Duo zusammengewachsen. Ein sehr „erwachsenes“, gelebt und nicht behauptet empfindsames und stets aufregendes Duo, das immer gut ist für Überraschungen. Vielleicht liegt es ja an Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser, dass man im „Tatort“ Wien nie den Eindruck hat, hinter dieser Konstellation stecke vor allem Konzept und Kalkül wie beispielsweise bei den „Tatort“-Nordlichtern, von Möhring/Schmidt-Schaller bis Milberg/Kekilli, auch wenn hier dafür häufig die Geschichten (noch) stärker sind.
In „Angezählt“ ist nun auch das Drehbuch ausgezeichnet. Martin Ambrosch, Autor der Ausnahmereihe „Spuren des Bösen“, nutzt die zuletzt immer enger gewordene Beziehung der Kommissare für die Handlung. Der Film von Sabine Derflinger („Kleine Schwester“), deren ästhetischer Realismus schon desöfteren ausgezeichnet wurde, erntet nun, was die Reihe über drei Jahre ausgesät hat. Kein (wie so oft hierzulande) punktuell erdachtes, sondern ein gewachsenes Ermittler-Drama ist dieser realistische Ausnahmekrimi. Die Gefühlsausbrüche eines TV-Reihen-Ermittlers wirkten selten so stimmig und kamen einem selten so nahe.