Ein Bild des Grauens erwartet Nina Rubin und Robert Karow am Tatort: Die Leiche von Enno Schopper besteht nur noch aus einer schwarzen Masse, zusammengeschmolzen mit einem Plastikliegestuhl in einem Berliner Laubengarten. Der Lehrer wurde erst erschlagen, dann mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Kommissare treffen auf Ennos Mann Armin (Jens Harzer), der ihnen erzählt, dass Enno seine Schwulenehe demonstrativ offen gelebt hat. An der Gesamtschule im Neuköllner Rollbergkiez erfahren sie, dass der Lehrer gerade erst beurlaubt wurde, weil er sich dem Schüler Duran Bolic (Justus Johanssen) in einer Umkleidekabine sexuell genähert haben soll. Das behauptet zumindest ein Zeuge. Seit Jahren kümmerte sich Enno um den Jungen aus schwierigen Verhältnissen. Er und Armin haben ihm ein Zuhause gegeben und ihn gefördert. Als die Kommissare Duran befragen wollen, ist der verschwunden – angeblich nach Kroatien, gemeinsam mit seinem Vater. Durans Freundin Jasna (Lisa Vicari) aber ist sich sicher, dass das nicht stimmt. Und Duran hätte Enno nie etwas zu Leide getan, er habe ihn vergöttert. Das beteuert auch Armin, dessen ironisch-charmante Art bei Kommissar Karow gleichermaßen Interesse und Misstrauen weckt.
Foto: RBB / Armin Thomaß
Über die ersten vier Fälle des Berliner Ermittler-Duos erstreckte sich das Rätsel um Karows ermordeten Partner. Es wurde gelöst. Und so beginnen Nina Rubin und Robert Karow jetzt quasi wieder bei Null. Nicht ganz. Denn ihre privaten Geschichten gehen auch im „Tatort – Amour fou“ weiter. Sieht man Nina zu Beginn nach einer offensichtlich wilden Nacht im Morgengrauen in hochhackigen Schuhen die Straße entlang streifen, so entsorgt sie kurz danach ihr Outfit zu Hause in der Mülltonne und erwartet ihren Mann, der wieder zur Familie zurückkehrt. Sie hat gute Vorsätze: Ihre Eskapaden will sie beenden. Kollege Karow liegt derweilen mit der Gerichtsmedizinerin im Bett, baggert später Hospitantin Anna (Carolyn Genzkow) an und landet nach Ermittlungen in einer Schwulenbar beim Hauptverdächtigen Armin in dessen Wohnung. Nina ist empört. Muss denn dieser Kollege immer alles flachlegen?! „Ja, ich ficke alles, was nicht rechtzeitig auf dem Baum ist“, kontert Karow trocken: „Fast alles“. Das gehört zu den „Tatort“-Krimis aus Berlin. Denn neben der Aufklärung eines Falls wird beinahe regelmäßig das Sexualleben der Kommissarin und die sexuelle Ausrichtung ihres Kollegen thematisiert. Die beiden sind Getriebene. Nina braucht das wilde Leben und die Großstadt, schafft den Spagat zwischen Job und Familie meist nicht. Robert ist flirrend und rätselhaft, er lässt sich in keine Schublade stecken, hat Sex mit Männern wie mit Frauen. Es bleibt spannend, wie sich die Charaktere entwickeln.
Christoph Darnstädt, mit drei Odenthal- und sämtlichen Hamburger Tschiller“-Folgen (inklusive der im Kino gelaufenen Episode „Off Duty“) enorm „Tatort“-erfahren, hat die privaten Geschichten homogen in die Story integriert. Die stürzt den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle. Zur Mitte des Krimis scheint der Täter quasi überführt zu sein, dann kommen Zweifel auf und die Geschichte nimmt eine überraschende Wende. Diese Amour fou mit tödlichem Ausgang ist sehr vielschichtig erzählt. Die Spannung ist eher schleichend. Erneut arbeiten die Kommissare eher nebeneinander her als miteinander, Nina ermittelt in einer Phase in Frankreich am Meer, musikalisch unterlegt mit dem berühmten französischen Chanson „La Mer“, das auch für Armin und den ermordeten Enno eine besondere Bedeutung hat(te). Jens Harzer spielt diesen Armin äußerst feinfühlig und präzise, sowohl in den ruhigen, traurigen als auch den ironischen Momenten. Wenn er dem Kommissar, der im weißen Overall Spuren sichert, entgegen haucht: „Wenn Sie die Kapuze aufsetzen, sehen sie aus wie ein Sperma aus dem Woody-Allen-Film“, dann kommt das wunderbar weich-witzig rüber.
Foto: RBB / Armin Thomaß
Ein bisschen Atlantik, aber in erster Linie spielt der „Tatort – Amour fou“ in Berlin, am Tempelhofer Feld, in Kreuzberg, in Neukölln, dort u.a. in der Hasenheide. Diese Schauplätze sind gut gewählt und von Regisseurin Vanessa Jopp, Grimme-Preis-gekrönt für die Serie „Klimawechsel“ und nach „Der schwarze Troll“ hier mit ihrem zweiten „Tatort“, stimmig & stimmungsvoll in Szene gesetzt. Sie erzählt eher entschleunigt, nimmt sich Zeit für die Figuren, beweist viel Gespür für Szenen wie die, in denen die Kids vom Kiez abhängen, und arbeitet mit wunderbar melancholischen Bilder an der Atlantik-Küste (Kamera: Judith Kaufmann!), wenn Nina Rubin eine wichtige private Entscheidung trifft und eine überraschende Begegnung hat. Die beiden Hauptfiguren sind gut aufgehoben bei ihr, Vanessa Jopp führt die Entwicklung der Charaktere wieder ein Stück weiter, Meret Becker und Mark Waschke haben sichtlich Gefallen an dem, was mit ihren Figuren passiert. Dass diese noch mit etwas anderem beschäftigt sind als nur dem Fall, macht die Kommissare ambivalent und unberechenbar. Dass man nach vier horizontal und sehr komplex erzählten Folgen jetzt zum Prinzip eigenständiger, abgeschlossener Fall übergeht und – abgesehen vom Privatleben der Charaktere – auf Altlasten verzichtet, gestaltet den Berlin „Tatort“ überschaubarer, aufgeräumter und zeigt: In Berlin kann man auch klassische Mordgeschichte.