Tatort – Am Tag der wandernden Seelen

Harfouch, Waschke, Kollath, Le Hong, Scheffler, Thiel. Beklemmend starkes Kopfkino

Foto: RBB / Provobis / Muehle
Foto Thomas Gehringer

Der zweite „Tatort“, in dem Corinna Harfouch und Mark Waschke gemeinsam vor der Kamera stehen, ist ein Highlight der Krimireihe: Nach dem Fund einer männlichen Leiche ermitteln Kommissarin Susanne Bonard und ihr Kollege Robert Karow im Milieu der vietnamesischen Gemeinschaft in Berlin. Die Episode „Am Tag der wandernden Seelen“ (RBB / Provobis) beweist, dass von extremer Gewalt erzählt werden kann, ohne Voyeurismus zu bedienen, ohne zu verharmlosen und dabei der Perspektive und der Würde der Opfer gerecht zu werden. Außerdem sticht die respektvolle, differenzierte Darstellung der vietnamesischen Kultur und ihrer Geschichte in Deutschland hervor. Und dann ist der Film von Mira Thiel (Drehbuch, Regie) und Josefine Scheffler (Drehbuch) noch hochspannend, dabei nicht nur düster und abstoßend, sondern auch voller Empathie, herausragend inszeniert, erstklassig gespielt.

Knapp 20 Minuten sind herum, da sieht man Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Robert Karow (Mark Waschke) im Auto sitzen, das gerade langsam durch die Waschstraße fährt. Und es scheint in dieser in rotes Licht getauchten Szene so zu sein, als würden Ströme von Blut abgewaschen werden. Die Wirkung hat auch mit dem Geschehen davor zu tun, das ein beklemmendes Kopfkino auslöst, ohne Gewalt explizit zu zeigen. In einem Einfamilienhaus in Berlin-Lichtenberg wird die mit Messerstichen übersäte Leiche eines 59-jährigen Bewohners gefunden. Die Berliner „Tatort“-Episode „Am Tag der wandernden Seelen“ setzt von Beginn an Maßstäbe: Statt der typischen Krimi-Routine am Tatort, wo sich Kommissare üblicher Weise ein wenig umschauen und nach Todesursache, Tatwaffe und Todeszeitpunkt fragen, erfolgt hier eine gründliche, 15-minütige Inspektion in zunehmend unheimlicher Atmosphäre. Dafür sorgen insbesondere die exzellente Kamera von Moritz Anton, die gespenstische Tonspur von Michael Junge & die Musik von Tim Neuhaus. Nur das plakative Nachbarinnen-Paar irritiert etwas in der konzentrierten Inszenierung. Nachvollziehbar und packend erzählt Regisseurin Mira Thiel jedenfalls, wie Bonard und Karow nicht nur den Tathergang rekonstruieren, sondern gewissermaßen das Haus und die Lebensumstände seines Bewohners und seiner nicht aufzufindenden Mutter entschlüsseln. Der Film ist das erste Produkt eines vom RBB eingerichteten „Writer’s Room“, und das Ergebnis kann sich wahrlich sehen lassen.

Tatort – Am Tag der wandernden SeelenFoto: RBB / Provobis / Muehle
„Willkommen in den Neunzigern!“ 15 Minuten lang wandeln Bonard (Harfouch) und Karow (Waschke) auf den Spuren eines „stillen“ Nachbarn. Ein reales Horrorkabinett, bei dem das Grauenvolle nicht gezeigt wird, sondern im Kopf des Betrachters abläuft. Die Tatort-Begehung ist mehr als eine Krimi-Exposition. Mit semiotischer Akribie werden Milieu & Vorgeschichte erzählt.

Mit der Einführung kehren sich die Verhältnisse um, wird die übliche Täter/Opfer-Konstruktion auf den Kopf gestellt. Denn die Polizei sucht zwar die unbekannte Frau, die den 59-jährigen Hans Engler getötet hat, aber der eigentliche Täter ist Engler selbst, der die Frau gefangen gehalten und offenbar schwer misshandelt hatte. Die juristisch geschulte Bonard beugt sich in der Rechtsmedizin über Englers Leiche und teilt ihm post mortem mit: „Ihr droht gar nichts. Sie kriegt nicht mal eine Anzeige.“ Dem Opfer ist dies aber offenbar nicht bewusst, denn es stellt sich nach seiner befreienden Notwehr-Tat nicht der Polizei. Bonard und Karow stoßen allerdings bei der Adresse von Englers Adoptivsohn Baro Müller auf eine Tierarztpraxis, deren Flure und Wartezimmer mit lauter asiatisch aussehenden Menschen gut gefüllt sind. Die Leute sind aber seltsamerweise alle verschwunden, als Bonard und Karow nach dem Gespräch mit Dr. Lê Müller (Mai-Phuong Kollath) wieder aus dem Zimmer treten. Die Ärztin kam aus dem „Bruderland“ Nordvietnam in die DDR, geriet aber nach der Wende in Deutschland in Existenznot. Der „immer nette und hilfsbereite“ Hans Engler half ihr damals, indem er die Vaterschaft Baros übernahm und damit ihren Aufenthaltsstatus sicherte. Nun revanchiert sich Lê Müller, indem sie weibliche Pflegekräfte zur Versorgung von Englers demenzkranker Mutter vermittelt. Das glaubt sie jedenfalls.

Die Gewalt, die Männer Frauen antun, wird nicht ins Bild gesetzt, und dennoch wird das furchtbare Ausmaß auf bedrückende Weise deutlich, insbesondere in zwei parallel geschnittenen Szenen: So spiegelt das Entsetzen in Karows Gesicht die Brutalität der Bilder, die der sonst eher abgebrühte Kommissar auf Englers VHS-Kassetten entdeckt. Und gleichzeitig sieht man, wie die von der Gewalt schwer gezeichnete Bui Thi Vien (Hanh Mai Thi Tran) von Dr. Müller untersucht wird. Angedeutet wird später auch, wie die junge Frau versucht, das Trauma zu bewältigen und in der vietnamesischen Gemeinschaft Halt findet. All dies inszeniert Mira Thiel ohne überflüssige Dialoge. Bezeichnend außerdem, wie hier das Thema übergriffiges Verhalten am Arbeitsplatz ganz beiläufig und ohne jeden belehrenden Kommentar eingeflochten wird. Die neue Kommissarin Bonard berührt gerne mal andere Menschen vertraulich an der Schulter oder am Arm – und löst unterschiedliche Reaktionen aus. Was für den einen nicht mehr als eine freundliche Geste ist, kann für jemand anderen unangenehm sein, zumal wenn die Berührung von einer Vorgesetzten stammt.

Tatort – Am Tag der wandernden SeelenFoto: RBB / Provobis / Muehle
Die Gewissenhaftigkeit, mit der in diesem „Tatort“ die vietnamesische Kultur dem Zuschauer vermittelt wird, erinnert an einen anderen Ausnahme-„Tatort“ – auch wenn es in Dominik Grafs „Frau Bu lacht“ (1995) um thailändische Frauen und Kinder geht.

Der schroffe Karow kann auf andere Weise übergriffig werden. „Ich bin nicht so der soziale Typ. Da müssen sie mit klar kommen“, sagt er zu Bonard. Bei ihrer zweiten Zusammenarbeit schärfen sich die Profile der unterschiedlichen Typen. Man gerät mal aneinander, aber man „kommt klar“ miteinander, respektiert und stützt sich, wenn es darauf ankommt, gegenseitig. Privates spielt diesmal keine Rolle. Bonards Familie, die noch bei ihrem „Tatort“-Einstieg in dem Zweiteiler „Nichts als die Wahrheit“ in Erscheinung trat, wurde vom Drehbuchteam in den Urlaub nach Schweden geschickt. Die ehemalige Polizei-Ausbilderin wagt bekanntlich einen Neustart in der Mordkommission. Harfouch spielt diese Mischung aus Lebenserfahrung und Unsicherheit, aus Hartnäckigkeit und Verletzlichkeit ebenso großartig wie Waschke den im März 2015 eingeführten, unkonventionellen Charakter Karow. Der hat anfangs sichtlich Schwierigkeiten, sich auf die Eigenheiten der vietnamesischen Kultur einzulassen. Komisch die Szene, als er sich zur Maniküre im Schönheitssalon niederlässt, um den Kontakt zu einem vietnamesischen Freund von Bui Thi Vien zu knüpfen. Die Sonnenbrille soll wohl der Tarnung dienen, um der temperamentvollen Kollegin vom LKA, Pham Thi Mai (Trang Le Hong), zu entgehen, die von Karows eigenmächtigen Recherchen im vietnamesischen Milieu wenig hält. Doch am Ende ist es der unnahbare, „nicht so soziale“ Kommissar, der sehr sensibel auf die Atmosphäre im buddhistischen Tempel reagiert.

Insbesondere das Verhör mit Dr. Lê Müller wird zu einer Exkursion in die Geschichte der vietnamesischen Gemeinschaft in Deutschland. Zur Sprache kommen die unterschiedlichen Erfahrungen der Vertragsarbeiter im Osten und der in den Westen geflüchteten Boat People sowie die „Baseballschlägerjahre“ nach der Wende und das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Das Misstrauen gegenüber der Polizei wird vor dem historischen Hintergrund nachvollziehbar, und es bleibt auch nicht beim typischen Kompetenzgerangel. Die aus einer vietnamesischen Familie stammende LKA-Beamtin, die Ärztin und auch das sich aus der Gewalt befreiende Opfer sind starke, klischeefreie Figuren in einer sichtlich um Authentizität bemühten Inszenierung, in der Vietnamesisch konsequenter Weise nicht synchronisiert, sondern untertitelt wird. Die Bilder aus dem Einkaufszentrum und aus einer Berliner Pagode beziehen die Wirklichkeit nicht nur als exotische Kulisse mit ein. Der Zusammenhalt einer Gemeinschaft am Rande der deutschen Gesellschaft, die sich in der Not lieber auf sich selbst verlässt, ist ein wichtiger Faktor im Film. Und die spirituelle Gelassenheit am Tisch des Mönchs Thao (Duc Toan Au) sowie das Vu Lan Fest am „Tag der wandernden Seelen“, bei dem Mira Thiel mit ihrem Team drehen durfte, schaffen einen emotionalen, tröstlichen Ausklang, ohne dass der finstere, bis zuletzt spannende Plot in ein unglaubwürdiges Happy End münden würde. So kann es mit Bonard/Karow gern weitergehen.

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Mit Corinna Harfouch, Mark Waschke, Mai-Phuong Kollath, Trang Le Hong, Hanh Mai Thi Tran, Viet Pham, Tan Caglar, Paula Knüpling, Duc Toan Au, Cynthia Micas, Reiki von Carlowitz, Debrecina Arega, Hannes Pastor

Kamera: Moritz Anton

Szenenbild: Thomas Pfau

Kostüm: Maria Dimler

Schnitt: Claudia Wolscht

Musik: Tim Neuhaus

Redaktion: Verena Veihl

Produktionsfirma: Provobis

Produktion: Jens C. Susa

Drehbuch: Josefine Scheffler, Mira Thiel – nach einer Idee von Josephine Scheffler, Thomas André Szabó und Dagmar Gabler

Regie: Mira Thiel

Quote: 8,08 Mio. Zuschauer (29% MA)

EA: 05.05.2024 20:15 Uhr | ARD

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