Die reale Polizeiinspektion Stralsund wirbt sogar auf ihren Streifenwagen um Nachwuchs. Die Krimireihe „Stralsund“ des ZDF dürfte diesen Bemühungen nicht eben förderlich sein. Denn von der 2009 ausgestrahlten ersten Folge an wurde dem Personal mächtig zugesetzt. Angehörige und Mitarbeiter der Stralsunder Mordkommission wurden ermordet oder im Dienst verletzt, erwiesen sich als korrupt, gestört, landeten im Gefängnis. Und brachen manchmal auch wieder aus, um neue Straftaten zu begehen.
Martin Eigler, Alleinautor der hier in Rede stehenden Episode, war bis auf eine Ausnahme durchgängig an den Drehbüchern beteiligt und erzählt weiterhin, was in deutschen Krimireihen lange Zeit die Ausnahme war und häufig noch ist, konsekutiv und in gewissem Sinne auch kumulativ: Zumindest bei den Hauptfiguren lässt er jeweils Erfahrungen aus den vorangegangenen Filmen einfließen. Die Protagonisten haben ein Gedächtnis; frühere Erlebnisse bleiben haften, haben Auswirkungen, bestimmen bisweilen das spätere Handeln. In besonderem Maße gilt das für die Kriminalhauptkommissarin Nina Petersen (Katharina Wackernagel), deren Berufsbiografie beinahe einer Passionsgeschichte gleichkommt. In der Vergangenheit wurde eine von ihr geschätzte Vorgesetzte im Dienst ermordet, sie selbst durch einen Kollegen angeschossen, woraufhin sie ihr ungeborenes Kind verlor. Petersen war in psychotherapeutischer Behandlung, eine Erfahrung, die schon im voraufgegangenen Film „Kein Weg zurück“ zwar nicht explizit angesprochen wurde, aber zumindest für eingeweihte Zuschauer an Petersens Verhalten ablesbar war. Offiziell weiß niemand von ihrer psychischen Erkrankung. Ob die wirklich überwunden ist, lässt Eigler offen, löst die Frage auch nicht auf und bewirkt so stete immanente Spannung. In Petersens regulärer Personalakte, deren Inhalt den Betroffenen bekannt gemacht werden muss, findet die Krankheit keine Erwähnung. Petersen muss jedoch erfahren, dass es noch andere, interne Aufzeichnungen gibt. Ihre neue Vorgesetzte Caroline Seibert (Therese Hämer) jedenfalls kennt dieses intime Detail.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
In der letzten Folge „Kein Weg zurück“ hatte die aus Rostock angerückte Seibert (in der Realität wäre das Präsidium Neubrandenburg zuständig, aber man soll auch nicht zu kleinlich sein) den Kommissaren Petersen und Karl Hidde (Alexander Held) unabhängig voneinander die Leitung der Mordkommission angetragen, beide hatten nach einiger Überlegung abgelehnt. Jetzt sitzt Seibert im Stralsunder Chefsessel und hat sich auch schon den einen oder anderen einheimischen Galan angelacht, was Petersen und Hidde bissig zu kommentieren wissen. Offenbar hat Petersens Krankengeschichte auch unter den Kolleginnen und Kollegen die Runde gemacht. Denn Petersen wird von der Schutzpolizistin Petra Degenhardt (Picco von Groote) angesprochen, weil die sich verfolgt fühlt, sich aber keineswegs sicher ist, ob sie nicht übertreibt oder gar an Wahnvorstellungen leidet. Bei der – wie man so hört – psychiatrieerfahrenen Petersen hofft sie auf diskreten, verständnisvollen Rat.
Das kurze Gespräch wird sich noch als bedeutsam erweisen. Am Meeresufer wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Sonja Richter, eine Studentin der unweit gelegenen Hochschule. Deren Freund Moritz Fink (Rick Okon) sagt aus, dass Sonja sich verfolgt gefühlt habe. Petersen kommt die Mitteilung Petra Degenhardts in den Sinn. Nur ein Gespür, aber sie wird Recht behalten. In Stralsund geht ein Stalker um, der es auf junge Frauen abgesehen hat, sie betäubt und in ihrer Bewusstlosigkeit fotografiert. Aber ist der Stalker auch der Mörder?
Sonja Richter hatte neben ihrer Beziehung zu Moritz Fink eine Affäre mit ihrem Professor Oliver Lauder (Johann von Bülow), und sie war nicht die einzige. Eine andere Studentin ist verschwunden – ein weiteres Mordopfer? Pikant: Aktuell ist der arrogante Schürzenjäger Oliver Lauder mit Caroline Seibert liiert. Der Leiterin der Mordkommission. Solche privaten Verwicklungen der Kriminalisten in die aktuellen Ermittlungen wirken häufig überkonstruiert. Auch hier ist das der Fall, andererseits ermöglicht diese dramaturgische Volte, die kühl kalkulierende, manipulative Caroline Seibert von einer emotionaleren Seite zu zeigen, ohne das Charakterbild insgesamt zu zerbrechen. Denn Seibert bleibt nach außen hin gelassen, als sie im Kommissariat von einem Nebenraum aus ungesehen der Vernehmung ihres Freundes beiwohnt und von dessen ausschweifendem Liebesleben zu hören bekommt.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
Schauspielerin Therese Hämer deutet nur knapp an, dass diese so selbstbewusste, beruflich erfolgreiche Frau entgegen ihrer Behauptung von den Geständnissen doch berührt, womöglich verletzt wird. Mehr braucht es gar nicht, leidenschaftliche Ausbrüche oder wütende Beschuldigungen hätten nicht zu dieser Figur gepasst. Auch wieder so ein Punkt: Nicht in allen Krimireihen, nicht einmal im Vorzeigeprodukt „Tatort“, gibt es diese Sorgfalt bei der kontinuierlichen Beschreibung der Nebenrollen. Mit dieser Caroline Seibert haben die Autoren offenbar noch einiges vor: In der Schluss-Sequenz ruft sie Nina Petersens geheime Akte auf, in der deren traumatische Belastungsstörung als Folge der besagten Schuss-Verletzung verzeichnet ist. Was Seibert nun mit diesem Wissen vorhat – man wird sehen.
Zur Kontinuität der Reihe gehört ferner, dass, dieses Mal unter der Regie von Michael Schneider, Sozialbeziehungen und Gruppendynamiken gut beobachtet, szenisch überzeugend erfasst und schauspielerisch präzise, der beruflichen Situation der Ermittler entsprechend eher unterschwellig statt großspurig-theatralisch umgesetzt werden. Eine Ausnahme bildet in dieser Episode Rick Okon, der seinen Schmerzensmann Moritz Fink mit allzu viel Sturm und Drang der ganz alten Schule versieht. Unglücklich zeigt sich, wie so häufig im deutschen Fernsehen, die Besetzungspolitik. Die Rolle von Nina Petersens Kollegen Hidde hat Alexander Held inne, der ebenfalls im ZDF und ebenfalls samstagabends in einer verwandten Rolle in der Krimireihe „München Mord“ auftritt. Auch die Vergabe der Episodenhauptrolle an den omnipräsenten, aber wenig wandlungsfähigen oder zu wenig geforderten Johann von Bülow ist der Erzählwirkung eher abträglich. Immerhin gibt es mit Karim Günes in der Rolle des in Folge 10 zur Mordkommission gestoßenen Ex-SEKlers Karim Uthman ein noch relativ neues Gesicht und damit eine Figur, die man – hoffentlich – künftig noch näher kennenlernen darf. Jedenfalls eröffnet sie den Autoren einige Möglichkeiten. (Text-Stand: 14.1.2018)