Zunächst hat man das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Ein äußerst rasanter Auftakt mit viel Action: Schüsse fallen, Fäuste fliegen. Doch dann sieht man Sibylle (Anne Ratte-Polle), die titelgebende Figur. Ende der Irritation: Sie wohnt mit ihrem Mann Jan (Thomas Loibl) und den beiden Söhnen im Urlaub am Gardasee nur einer Stunt-Show bei. Und schon taucht man ein in die geheimnisvolle Gefühlswelt dieser Frau. Nach außen hin scheint alles heil und normal: ein typischer Familienurlaub. Doch auch hier schon will Sibylle entfliehen, auf ihren einsamen Spaziergängen durch die Natur. Und da passiert es: Die Architektin wird Zeugin des Selbstmordes einer gleichaltrigen Frau, der sie zuvor mehrfach begegnet war und die ihr auch noch verblüffend ähnlich sieht. Als sie sich über die blutende Frau beugt, haucht die ihr noch die Worte ins Ohr: „Sie verwandeln sich, alles verwandelt sich.“ Zurück in ihrer vertrauten Umgebung in München wird Sibylle immer wieder von dem schrecklichen Ereignis eingeholt. Das Schicksal der Frau und ihr eigenes scheinen eng miteinander verwoben zu sein. Es gibt eine Reihe merkwürdiger Parallelen, die Sibylle nach und nach bewusst werden. Denn auch sie leidet unter der zunehmenden Entfremdung von ihrer Familie und fühlt sich ausgebrannt. Der Arzt verordnet Sibylle eine berufliche Auszeit, sie versucht, die Kontrolle über ihr Leben und den Anschluss an ihre Familie wieder zu erlangen… vergeblich.
Foto: BR / Passanten Filmproduktion
Der Schweizer Filmmacher Michael Krummenacher lässt den Zuschauer Zeuge sein bei der schleichenden Entstehung einer Psychose, eines Wahns. Durch einen äußerlichen Vorfall gerät das labile Innenleben der Protagonisten mehr und mehr außer Kontrolle. Da ist ihr Mann Jan, von dem sie sich entfremdet hat, die Arbeit im Architekturbüro, wo sie mit dem Druck nicht klarkommt, der heranwachsende Sohn, der Bodybuilding machen will und heimlich Pornos guckt. Sibylle findet sich nicht mehr zurecht, flüchtet sich in Wahnvorstellungen, wobei man als Zuschauer an einigen Stellen nur schwer zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden kann. Die Grenzen zwischen Realität & Fantasie sind – durchaus geschickt inszeniert – fließend. Das macht über die volle Distanz neugierig, sorgt für ständige Irritationen, fordert.
Versetzt ist dieses Psychodrama mit Elementen des Horrorfilms, die der Filmemacher oft sehr verspielt, mal durchdacht in die Story einfließen lässt. So entsteht ein durchaus ansehnlicher, aber auch verstörender Mix aus Mystery und Psychodrama. Von wem Krummenacher dabei inspiriert und beeinflusst wurde, wird des öfteren deutlich: Ob Kubricks „Shining“, Polanskis „Der Mieter“, Hitchcock-Elemente (der Nachbar-Voyeur erinnert an „Das Fenster zum Hof“) oder auch die Handschrift von David Lynch sind erkennbar – und wohl auch gewollt. Aber nicht nur, denn dem Regisseur, der an der Hochschule für Film und Fernsehen in München studiert hat, die den Film auch mitproduzierte, und seinem Kameramann Jakob Wiessner gelingen schöne eigenständige Bilder. Die sind aber eher die Ausnahme, vielen Einstellungen fehlt das Besondere, man huscht mit dem Auge förmlich drüber hinweg. Klar, wenn Blut aus dem Boiler fließt, dann ist das imposant, hat einen gewissen Gruseleffekt, aber das Bild muss zur Erzählung passen. Das ist aber nicht durchgehend der Fall. Zuweilen vertraut der Filmemacher zu sehr auf die Bilder und ist dabei zu verliebt in manche Einstellungen.
Foto: BR / Passanten Filmproduktion
„Michael Krummenacher und sein Kameramann Jakob Wiessner finden exzellente Bilder für das Einbrechen des Wahns. In kräftigen Farben – oft sind es Primär-Farben, was an manche Giallo-Klassiker erinnert – breitet sich eine hyperreal wirkende Künstlichkeit in Sibylles Welt aus, und Anne Ratte-Polle legt die Titelrolle ergreifend komplex an, in einem Schwanken zwischen Weichheit, extremer Verletzlichkeit und unerwarteter Aggression.“ (Patrick Seyboth: epd film)
Krummenacher erzählt die Geschichte konsequent aus der Sicht der Hauptfigur. Man sieht, wie sie in den Strudel gerät, zunehmend die Kontrolle über ihr Leben zu behalten versucht, aber sie mehr und mehr verliert. Das ist durchaus spannend zu beobachten. Aber man sieht ihr zu, man hat keine Empathie dabei. Zu distanziert ist diese Figur im emotionalen Sog. Und diese Distanz wird im ganzen Film nicht abgebaut – auch die teilweise dramaturgisch geschickt gesetzten Schockelemente lassen den Betrachter seltsam teilnahmslos. Das liegt an der allzu kühlen und Distanz erzeugenden Inszenierung, keineswegs am beeindruckenden Spiel der Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle (2016 in zwei „Tatort“-Krimis zu sehen: „Narben“ & „Hundstage“). Wie sie diese Sibylle mal weich, mal hart, mal verletzlich, mal verletzend spielt, wie sie die vielen, oft schnell wechselnden Gesichter der Frau umsetzt, ist sehenswert.