Shiri (Jasna Fritzi Bauer) ist gelernte Schauspielerin. Doch anstatt in ernsthafte Theaterrollen zu schlüpfen, muss sie im Hühnchen-Kostüm die Kinderanimateurin geben. Grund: Sie ist 30, sieht aber aus wie ein Teenager. Hinzu kommt, sie ist anstrengend, rotzfrech und impulsiv. Das ist momentan selbst ihrem Freund Jonas (Benjamin Lillie) zu viel. Er will eine „Auszeit“. Am selben Tag lernt Shiri bei einem Aushilfsjob auf dem Gartenfest des Polizeipräsidenten den frustrierten und sehr anhänglichen Polizisten Ulf (Peter Fieseler) kennen. Als sie später in ihrer Wohnung sind, taucht unerwartet Jonas auf; kurz darauf sitzt dieser in U-Haft. Der Kommissar hat bei ihm 500 Ecstasy-Pillen sichergestellt. Jemand muss ihm die Drogen untergeschoben haben. Was für ein Teufelszeug diese Pillen sind, die in Berlin die Runde machen, bekommt ausgerechnet die Tochter des Innensenators zu spüren. Umschlagplatz für den Stoff ist offenbar die Vorzeigeschule, an der Rektor Tess (Florian Bartholomäi) einen reformpädagogischen Kurs fährt. Und ein Gerücht macht bald die Runde: Der Schuldirektor soll eine Affäre gehabt haben mit eben dieser Schülerin, die nach dem Drogen-Trip im Koma liegt. Um ihren Freund zu retten, würde Shiri so gut wie alles tun. Also macht sie mit Dienststellenleiter Wallmann (Peter Schneider) einen Deal: Als Schülerin getarnt, soll sie herausfinden, wer an der Schule den gefährlichen Drogenverschnitt vertickert und auch ein Auge auf den seltsamen Rektor haben. Eine Schauspielerin als Undercover-Agentin. „Sie sind doch Schauspielerin. Rollen spielen, das können Sie doch?!“ Wenn das so einfach wäre…
Ob das endlich die Rolle ihres Lebens ist, das wird sich am Ende der zehn Folgen der neuen Vox-Serie „Rampensau“ zeigen. Für Jasna Fritzi Bauer jedenfalls ist sie es. Die Schauspielerin ist eine Wucht. Das liegt auch an der Figur. Der widerfährt genau das, was Bauer in ihrem Berufsleben auch schon häufig passiert sein muss. In Folge 1 wird dieses Besetzungsproblem in einer Casting-Szene im Theater köstlich auf den Punkt gebracht: „Ich bin 30! Wollen Sie meinen Perso sehen?“, verteidigt sich die genervte Schauspielerin, bei der die Regisseurin (Sophie Rois in einer Gastrolle) erwachsenes Sex-Appeal vermisst. „Sie sehen aus wie 12“, kommt es trocken zurück. Mit dieser ständigen Demütigung kann die Heldin nur noch wütend und zynisch umgehen: „Mit Hacken und mit Push-Up kann ich glatt als 14 durchgehen.“ Also warum nicht gleich eine Schülerin spielen? Zwar nur im wahren Leben, aber dafür mit der Chance, den Liebsten zurückzugewinnen! Titelfigur, Hauptdarstellerin und Grundidee sind große Klasse. Vielversprechend sind auch die Autoren, das Grimme-Preis-gekrönte Duo Jan Martin Scharf und Arne Nolting (unterstützt von Valentina Brüning), auch wenn sie sich diese Geschichte nicht selbst ausgedacht haben. „Rampensau“ ist vielmehr eine Adaption der israelischen Serie „Metumtemet“. Auch das spricht für diese wagemutige Genre-Mixtur aus Charakter-Drama, Schüler-Komödie und Gangsterfilm; denn längst sind israelische Serien wie die „Homeland“-Inspirationsquelle „Prisoners of War“, „Shtisel“ oder „Fauda“ Geheimtipps für Serienfans und für TV-Produzenten gehören sie ohnehin zu den innovativsten in der Welt.
Hat man die Prämisse „Schauspielerin wird Undercover-Agentin“, auf die auch die Marketing-Kampagne des Senders baut, im Kopf, wundert man sich als Zuschauer zunächst über die etwas ausufernde Etablierung weiterer Schauplätze und Charaktere. Da sind die Freunde und Mitbewohner der Heldin, Natti (Laura Louisa Garde) und Louis (Daniel Zillmann), die die Idee eines Food-Trucks umtreibt, da wird einiges Personal an der Schule in die Handlung einbezogen, neben Rektor Tess und dem Drogenopfer (Mila Böhning) noch einige Schüler wie beispielsweise Maurice (Jakob Schmidt), ein Außenseiter, der unscheinbar wirkt und gemobbt wird, aber weiß, wie man an Drogen kommt. Etwas zu viel Aufmerksamkeit wird zu Beginn der Beziehungskiste zwischen dem Ermittler Ulf und seiner Frau Anja (Lorna Ishema) eingeräumt; völlig überflüssig ist eine Szene, in der ein Verflossener Anjas auftaucht, ein Schriftsteller, der die dunkelhäutige Schöne in einem Roman verewigt hat. Im Laufe der ersten beiden Folgen erkennt man allerdings, dass „Rampensau“ keine Plot-, sondern eine Charakter-getriebene Serie ist. Und diese kettenrauchende, dauermotzende und unberechenbare Shiri ist erwartungsgemäß nicht gleich Feuer und Flamme für den Job als Verdeckte Ermittlerin oder – wie sie es ausdrückt – als „Stasispitzel an so ‘ner verkackten Schule“. Ihr Zögern erhöht einerseits die Glaubwürdigkeit der Figur und es ermöglicht (dem Zuschauer), sie und ihr Umfeld näher kennenzulernen, aber eben auch die Milieus, die später noch eine wichtige Rolle für die Handlung spielen werden. Außerdem ist es wichtig zu zeigen, welche Abhängigkeiten es gibt und unter welchem Druck die Figuren stehen – auch um die recht abstruse Prämisse des Films von allen Seiten her einigermaßen plausibel erscheinen zu lassen. Hier bestätigt sich die alte Dramaturgie-Regel: Soll die Ernte gut sein, muss erst einmal ausgesät werden.
„Packen Sie mal ‘ne Schultüte“. Am Ende der zweiten Folge ist Shiri reif für den Bullen-Job. In der dritten Folge haben allerdings noch die neuen Kollegen ein Wörtchen mitzureden. Insbesondere die eifersüchtige Anja würde dieses unverschämte Persönchen am liebsten aus dem Team kegeln. Ein Test, bei dem Shirin in der Rolle einer Prostituierten unter Beweis stellen soll, dass sie auch als Anfängerin gut mit großem Druck umgehen kann, läuft völlig aus dem Ruder. Für die Heldin wird es lebensgefährlich, für den Zuschauer ist es eine außergewöhnliche Szene, weil sich darin Komik und Spannung gegenseitig wunderbar hochschaukeln. Da Shiri cool bleibt, kann sie in der vierten Folge ihre Wiedergeburt als Schulmädchen feiern: In ihrer Klasse verschafft sie sich gleich mal Respekt, bringt den Rektor mächtig ins Schwitzen (offenbar will sie ihr „Lolita-Problem“ aus der Rois-Szene nun gewinnbringend einsetzen) und die Bullen zur Verzweiflung. Und weil so überlegt gesät wurde, ist die Ernte in den nächsten Folgen (bis Folge 7 konnte die Serie gesichtet werden) entsprechend gut. Die Spekulationen um Rektor Tess schießen ins Kraut: Nimmt er selbst Drogen? Wie war sein Verhältnis zu der Tochter des Innensenators? Steht er vielleicht auf Schulmädchen? Oder weshalb wird er immer so fahrig, wenn ihm Shiri (die ja eigentlich kein Schulmädchen mehr ist) gegenübersteht. Und was ist mit Maurice? Dieses Papa-Söhnchen kann doch kein Dealer sein? Auch Shiris Freunde werden zunehmend die Heldin unterstützend in die Handlung eingebunden, während das Polizistenehepaar, insbesondere Anja, als latente Bedrohung für die Heldin etabliert wird. Jeder spielt ein bisschen mit dem anderen, es wird gelogen und im Notfall vorsätzlich manipuliert. Die Hauptfigur fährt nach der Halbzeit sogar zweigleisig, um ihren Freund aus dem Knast zu holen: Weil ihr Wallmanns Versprechungen zu unsicher sind, will sie unbedingt einen Staranwalt verpflichten. Doch der kostet Geld – und Geld ist bei ihr und ihren WG-Genossen ein rares Gut. Allerdings hat sie – dank ihres „Charmes“ – Ecstasy-Pillen im Wert von mindestens 2500 Euro in ihrem Rucksack…
In „Rampensau“ kommt es immer anders, als man denkt. Und das ist im Rahmen einer Serie, deren Sujet nicht von seinem Realitätsgehalt lebt, durchaus glaubwürdig. Ein solcher wilder Genre-Mix besitzt dramaturgisch andere Optionen. Schräge Figuren erlauben Überraschungen, die in einem „authentischen“ Drama nichts weiter als dumme Zufälle wären. Dieses Hin und Her zieht sich durch die Serie, durch eine einzelne Folge, ja manchmal kehrt sich sogar innerhalb einer einzigen Szene die Situation mehrfach um wie im bereits erwähnten Test für die V-Person-Novizin. In einer anderen Szene machen die Kommissare deutlich: Würde Shiri noch mehr Pillen „auftreiben“, könne das die Entlassung von Jonas deutlich vorantreiben. Der Zuschauer weiß, dass Shiri einen Beutel mit Pillen in der Tasche hat, und dann greift sie tatsächlich hinein, zieht allerdings „nur“ ihr Handy heraus. Mit dem hat sie ein Gespräch von Wallmann & Co aufgenommen, das beweist, dass die Polizisten ein falsches Spiel mit ihr treiben. Ein Punkt für sie. Doch plötzlich schlagen die Hunde an. Drogen-Hunde. Der Zuschauer weiß Bescheid, fiebert mit der Heldin mit. Die Kommissare schalten nicht (wieso auch?), und Shirin macht so schnell wie möglich einen Abgang. Die Serie steckt voller solch kleiner aufregender Momente. Auch der gleich in der ersten Szene auftretende Drogenboss mit dem Spitznamen Amboss (Ronald Kukulies), welcher unliebsame Personen gern schon mal mit einer Bohrmaschine foltert, ist eine aufreizend ambivalente Figur Marke Padre Tony Soprano. Eine andere Stärke der Serie ist die dichte Konstruktion paralleler (häufig vier) Handlungsstränge, die für Abwechslung und oft auch für gesteigerte Spannung sorgt. Auch hier zahlt es sich wieder aus, dass die Drehbuchautoren sich viel Zeit für die Etablierung der Konflikte und Charaktere gelassen haben. Dadurch können zunächst unverständliche Motive wie etwa die Eifersucht später richtungsweisend in die Handlung eingreifen.
Auch filmisch ist die Serie sehr ansehnlich und kann – was die Inszenierung angeht – mit sehr guten deutschen Serien wie „Morgen hör ich auf“ oder „Die Protokollantin“ durchaus mithalten. Regie führten Dustin Loose („Der höllische Heinz“), Christian Werner („SOKO Stuttgart“) und Florian Knittel („Es bleibt in der Familie“). Besonders ins Auge sticht die exquisite Farbdramaturgie. Dem coolen Blaustich des polizeilichen „Kommandozentrale“ steht die private Welt der Heldin und ihrer Freunde gegenüber, in der es bunter und lebendiger zugeht. Nacht, Disco-Lifestyle und Drogenrausch werden mal mit Hilfe monochromer Bildeffekte eingefangen, mal in einen betörenden Mehrfarbenzauber getaucht. Auch die Kamera zaubert in Verbindung mit dem beeindruckenden Szenenbild immer wieder eine Enge konnotierende Cadrage, die das Käfighafte betont und damit das Motiv des Gefangenseins (Abhängigkeiten, Zwänge, Druck, Knast) visualisiert. „Rampensau“ ist also durchaus mehr als nur die Serie, bei der man – völlig zu Recht – als erstes an Jasna Fritzi Bauer denkt.