Zwei Morde, zwei Teams, ein Fall und viele faule Geschäfte
Fast zeitgleich werden in Rostock und in Magdeburg zwei Menschen getötet: mit vier Kugeln ein Wirtschaftsprüfer und die Frau des Juniorchefs einer in Rüstungsgeschäfte verwickelten Firma bei einem Brandanschlag. Beide hatten ein Verhältnis miteinander; die Morde aber besitzen einen politischen Hintergrund. Als erster ahnt dies Kommissar Drexler (Sylvester Groth), als er auf seinen Ex-Kollegen Ferdinand Frey (Cornelius Obonya) stößt, der offenbar einst als ZERV-Mitarbeiter gravierende Unregelmäßigkeiten in jener Firma vom ostdeutschen Urgestein Herbert Richter (Jörg Gudzuhn) aufdeckte, bevor der Polizist der Vergewaltigung überführt wurde. Und noch eine weitere Firma, die von Richter-Spezi Siegfried Wagner (Michael Kind), gerät ins Visier des peniblen Drexler. Während seine Kollegin Brasch (Claudia Michelsen) versucht, über Richters Enkelin (Zoe Moore) emotional Einblick in die Sachlage zu bekommen, herrscht im Rostocker Revier das blanke Chaos. Katrin König (Anneke Kim Sarnau), die mit Pöschel (Andreas Guenther) ermitteln muss, kommt nur schwer in die Gänge. Und Bukow (Charly Hübner) ist mal wieder suspendiert, ermittelt auf eigene Rechnung und hat bald eine Leiche an der Backe und die entsprechende Tatwaffe in der Hand.
Foto: NDR / MDR / Schroeder
Straßenköter & Stubenhocker, Gefühlsmensch & Adrenalin-Junkie
Einen Zweiteiler zu machen ist schon schwierig genug. Ein dreistündiger Ermittlerkrimi im Whodunit-Modus ist bei der heutigen Plotdichte einer 90minütigen Reihenepisode mit ihren horizontalen Vorgaben an die Charaktere noch mal eine weitere Herausforderung. Und wenn dann auch noch zwei Teams in diesem Zweiteiler gemeinsam ermitteln müssen mit insgesamt neun Kommissaren und Helfershelfern, kann man gut verstehen, dass Regisseur und Ko-Autor Eoin Moore während der Dreharbeiten vier Whiteboards brauchte, um alle Erzählstränge und Verflechtungen für seinen „Polizeiruf 110 – Wendemanöver“ unterzubringen. Nicht unproblematisch für dieses ARD-Sonntagskrimi-Experiment war auch die für gewöhnlich völlig unterschiedliche Gangart der beiden Ermittlerteams. Die Rostocker sind physisch, geradlinig, wild und gehen immer dorthin, wo’s wehtut. Die Magdeburger – auch wenn Claudia Michelsens motorradfahrende Kommissarin bisher ein bisschen auf Schimanski getrimmt wurde – sind dagegen „etwas nachdenklicher unterwegs“, so Moore, „Drexler ist ein stiller, schweigsamer Ermittler, und auch Brasch quasselt nicht viel und gibt ungern Informationstexte von sich“. In einem Film, der – nicht zuletzt durch das ständige Hin und Her zwischen Magdeburg und Rostock – Tempo (in und zwischen den Bildern) zum bestimmenden formalen Prinzip macht, mussten Drexler, Brasch & Co stärker über den Schatten ihrer Mentalität springen. Für Bukow/Hübner und König/Sarnau war es dagegen mit Eoin Moore, der bisher fünf der zwölf Rostocker „Polizeiruf“-Episoden als Regisseur und Autor zu verantworten hatte, eher ein Heimspiel. Das Raue, etwas Rüde dominiert in „Wendemanöver“. Straßenköter Bukow und Adrenalin-Junkie König scheinen über den Stubenhocker Drexler und den Gefühlsmenschen Brasch die Oberhand zu gewinnen. Doch ohne Drexlers Ausdauer würde dieser komplexe, in die Treuhand-Kriminalität des Jahres 1990 zurückreichende Fall nicht gelöst werden können. Und dass dieser auch ein ganz persönliches Interesse an der lückenlosen Aufklärung der Morde hat, verweist auf seine Liebesbeziehung zu dem einstigen Kollegen, der offenbar 16 Jahre unschuldig im Gefängnis saß.
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Wendezeit-Thematik und eine Handlung voller wilder Fiktionen
Die kleinteilige Polizeiarbeit findet in „Wendemanöver“ zunächst auch ihre dramaturgische Entsprechung. Besonders die ersten 40 Minuten, in denen die Teams noch für sich mehr oder weniger routiniert vor sich hin ermitteln, sind weit entfernt vom thematisch interessanten Aufdecken der unseligen alten Seilschaften (Stichwort: „Transferrubelbetrug“) und von der Hochspannung, die der Film auf der Zielgeraden von Teil 1 und über weite Strecken im zweiten Teil erzielt. Die beiden Schauplätze bremsen sich gegenseitig aus; das ständige, sich (noch) nicht aus dem „Inhalt“ schlüssig ergebende Umschneiden, ist allein dazu da, die Geschichte zu transportieren und den Zuschauer zu informieren, eine Eigendynamik, geschweige denn einen eigenen Erzählrhythmus kann der Film so nicht entwickeln. Obwohl er auch später nicht die Geschlossenheit der meisten Rostocker „Polizeiruf“-Krimis besitzt, so machen doch die Subplots neugierig und sorgen dafür, dass sich zumindest „inhaltlich“ Spannung aufbaut. Die Handlung jedenfalls steckt voller wilder Fiktionen, die die „realistische“ deutsch-deutsche Wendezeit-Thematik bereichern. Da outet sich ein verklemmter Sesselfurzer-Kommissar endgültig als homosexueller, leidenschaftlicher Liebhaber. Da küsst schon mal eine Kommissarin nach kurzer Befragung unvermittelt einen Zeugen, während die Kollegin bei der Tochter der Toten auf Mutterersatz macht und sie regelrecht einspannt für ihre Ermittlungen. Und Bukow, dieser Problembär, der geht nicht nur seine Polizeipsychologin rüpelhaft an, was seine Suspendierung nach sich zieht (von der er sich allerdings später freikauft), sondern gerät sogar unter Mordverdacht, taucht unter und wird zur Fahndung ausgeschrieben. Und weil es so schön ist, wenn die einem ans Herz gewachsenen Helden leiden, muss dieser auch noch mehrfach Bekanntschaft mit einem Elektroschocker machen.
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Eoin Moore über den Kern der Geschichte:
„Es ist eine panoramahafte Geschichte über das Erben historischer Schuld. Die Söhne erben von ihren Vätern die Last der Vergangenheit… Wir blicken über einen besonderen Fall von Wirtschaftskriminalität auf die Wendejahre zurück. Hier machen West und Ost bei Transferrubelgeschäften gemeinsame Sache.“
Von Eltern und Kindern – Familienaufstellung im Verhörraum
In der Masse dieser abwechslungsreichen Handlungsmomente, im allgemeinen Polit-Action-Ich-mach-mein-Ding-Gedöns also, geht das Motiv, das man bei einem 90-Minüter wohl zum zentralen Thema der Episode gemacht hätte – von Vätern und Söhnen, von Großeltern, Eltern und deren Kindern – weitgehend verloren. Es sind die Fragen, die Michelsen für die Geschichte formuliert und die der Film nur am Rande stellt: „Was schweigen wir tot? Wie sind unsere Eltern mit uns umgegangen? Wie gehen wir dadurch heute mit unseren Kindern um? Was war erlaubt, was nicht?“ Weil der Zwang zum Whodunit über allem kreist, kommt der historische Subtext zu diesem „Polizeiruf 110“ – wie so oft beim Krimi – zu kurz. Genauso wie die von der Idee her großartigen Schlussverhöre, bei denen es zu einer Familienaufstellung im Verhörraum kommt. Tief tragisch, aber eben doch zu knapp, um nach 170 Minuten einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Und so merkt man dem zumindest zwei Stunden lang packenden Film an, dass er in jeder Hinsicht ein Kraftakt gewesen sein muss. Dieser wird zwar beachtlich bewältigt, Moores Film entlässt einen aber nicht mit dieser Zufriedenheit, diesem Gefühl des Heißseins auf den nächsten Rostocker „Polizeiruf“. Dabei ist das existenzielle Sinnieren von Katrin König in der Schlussszene über sich, Bukow & die Welt sehr vielversprechend: „Ich glaub’, ich bin anders. Anders als andere Menschen. Normale Menschen, mit Beziehungen, Kinder, Haus, Hund, Katze, Maus.“ Bukow: „So wie ich?“ König: „Ja, oder ne, Sie sind auch anders – anders anders.“ (Text-Stand: 27.8.2015)