Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, dass Kommissarin Olga Lenski (Maria Simon), die unlängst den Dienst quittiert hat und ihren Resturlaub mit ihrer Tochter (Aennie Lade) abbummeln möchte, ausgerechnet durch eine „Rückholaktion“ in ihren schwierigsten Fall gerät. Eine junge Frau, Louise „Lou “Bronski (Lucia Oppermann), nach einer zweijährigen Haftstrafe gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, hat offenbar im Affekt eine Mitarbeiterin des Jugendamts in Frankfurt/Oder mit einer Schere tödlich verletzt und befindet sich auf der Flucht. „Manchmal haben wir es eben mit sehr gestörten Menschen aus sehr gestörten Verhältnissen zu tun“, so die Chefin der Toten (Petra Hartung). Eine Befragung der Mutter der Täterin (Jule Böwe) durch Lenski und ihren Kollegen Raczek (Lucas Gregorowicz) macht das Ausmaß der sozialen Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter deutlich. Lou befand sich seit ihrem zehnten Lebensjahr auf einer Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien und geriet mit vierzehn auf die schiefe Bahn. Jetzt verfolgt sie nur noch ein Ziel: sich ihre kleine Tochter Lilly zu holen – und sich ins Ausland abzusetzen. Auf dem Weg dorthin sind ihr alle Mittel recht. Das bekommt bald auch Lenski hautnah zu spüren. In der Kanzlei von Lillys Vormund (Rainer Strecker) wird sie von Bronski überwältigt – und ist von nun an deren Geisel.
Foto: RBB / Oliver Feist
Diese junge Mutter ist unberechenbar und hat nichts mehr zu verlieren. Bei einer solchen Episodenhauptfigur, noch dazu in Maria Simons letztem Einsatz als Olga Lenski sind im „Polizeiruf 110 – Monstermutter“ Überraschungen jeder Art denkbar. Dafür spricht auch der Umstand, dass den Journalisten die letzten zwölf Minuten des Films bei der Preview vorenthalten worden sind. Bis dahin ist – egal, welches Ende das Thriller-Drama auch nehmen wird – bereits abzusehen, dass dieser RBB-Reihenableger seinen krönenden Abschluss gefunden hat. Dabei beginnt alles wie so oft in den Krimis aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet ziemlich unaufgeregt. Die größten Emotionen bringt zunächst Adam Raczek ein; dem Kollegen will es einfach nicht in den Kopf gehen, dass Lenski ihm verschwiegen hat, dass sie hinschmeißt („Ich bin Ihr Partner, Lenski!“). Eine befriedigende Antwort hat sie für ihn nicht parat. Und auch für den Zuschauer bleibt sie nach achtzehn Filmen ein Stück weit eine Unbekannte: ruhig, wortkarg, eigenwillig. Im Umgang mit Zeugen und Verdächtigen ergibt sich daraus ein angenehm sachlicher Befragungsstil: Haltungen und Befindlichkeiten verkneift sich die Kommissarin, und Maria Simon durfte in dieser Rolle darauf verzichten, überdeutlich Emotionen und billige Psychologie an den Tag zu legen. Und so ergibt sich beispielsweise aus der Befragung der Mutter der Mörderin eine zwischentonreiche Szene, die die Beziehung der Bronski-Frauen andeutet. Es gibt offenbar nicht nur eine Monstermutter!
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Ähnlich wie der Krimi-Plot zunächst wenig Aufregung verspricht, wirkt auch die Inszenierung von Autor-Regisseur Christian Bach („Polizeiruf 110 – Heimatliebe“ / „Hirngespinster“) auf den ersten Blick unspektakulär. Allerdings zeigt sich bald, dass dahinter Methode steckt: Die alltäglich wirkenden Ermittlungen und das achtsame Eindringen in das prekäre Umfeld der Bronskis sind beste Voraussetzungen für die kommende Konfrontation auf Leben und Tod. Sie spiegeln nicht nur das stimmige Realismus-Konzept des Films, die Milieu-Darstellung mit Handkamera & realistischem Licht, sondern sind auch wahrnehmungspsychologisch ein überaus effektiver Einstieg, um die Spannung später ins geradezu Unerträgliche zu steigern. Ein knalliges dramaturgisches Gegenkonzept wäre bei dieser Geschichte durchaus denkbar (Knarre am Kopf von Lenski, „Lilly für Olga“ – Schnitt: „vor 24 Stunden“), entspräche aber weder der Tonlage der Lenski/Raczek-Krimis noch Bachs klugen narrativen Konzept: So ebnet die offen geführte Täterin dem Krimi den Weg über das Drama hin zum Roadmovie-Thriller – wobei es nicht die Genre-Muster, sondern die Menschen sind, die die Gangart bestimmen. Zwei Frauen in einer Ausnahmesituation – ein Auto, eine Pistole, ein Zielort der Reise, an dem möglicherweise der SEK-Apparat ins Spiel kommen wird. Dem Kleinen, den intimen Szenen, in denen einiges aus der Vergangenheit der Täterin zur Sprache kommt, dürfte voraussichtlich ein großes Finale folgen, das für jede der beiden Mütter existenziell sein wird.
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Geschickt spielt der „Polizeiruf – Monstermutter“ mit dem Mythos der guten Mutter, der zu einem der nachhaltigsten Topoi der jüngeren Fernseh(drama)geschichte gehört. „Bist du eine gute Mutter?“, fragt ruhig und fast sanft jene Frau, die gerade noch hibbelig und hasserfüllt die Kommissarin anbellte („Du Bullenfotze“), den Finger zittrig am Abzug, und die im nächsten Moment wieder diese tickende Zeitbombe sein wird. Die gute Mutter, diese Vorstellung, ist das eine Motiv, das Bronskis Handeln bestimmt, das andere ist die Wut auf die Gesellschaft, auf die eigene Mutter, das Jugendamt, die Richter, die ihr das Sorgerecht für die Tochter aberkannten. Keine Verantwortung für sein Tun übernehmen wollen oder können: das gehört zu dieser Familiengeschichte, in der Schuld immer nur die anderen haben. Wird diese junge Frau unversöhnlich bleiben bis zum bitteren Ende? Wird ihre Mutter ihr krankes Schweigen brechen? Und was wird aus Lenski, die in ihrem letzten Fall zwischen die Fronten gerät: Wird sie Opfer dieser Kamikaze-Mutter, weil der Staat auf sein Machtmonopol beharrt, oder findet sie doch noch einen Ausweg? Für Hochspannung also ist gesorgt, Hochspannung, die nie künstlich forciert werden muss, sondern allein aus den Charakteren und der Situation resultiert. Ein stimmiger, würdiger Abgang für diese eigenwillige, aber nie eigensinnige, konzentrierte, hochprofessionelle Kommissarin, die mit Kind, ohne Mann und ohne Befindlichkeitsschmus zehn Jahre uneitel ihren Job machte. (Text-Stand: 4.1.2021)