Polizeiruf 110 – Hermann

Gregorowicz, Flake, Glickman, Bäuml, Dror Zahavi. Geschichte hinter der Geschichte

Foto: RBB / Maor Waisburd
Foto Martina Kalweit

Eine Mordermittlung führt Kommissar Raczek nach Cottbus. Im ersten Post-Maria-Simon-Fall des Brandenburger „Polizeiruf 110“ ermittelt der Kommissar mit einer ehemaligen Kollegin. Die Rollen sind klar verteilt: Sie geht pragmatisch vor und blendet aus, was der Aufklärung nicht dient. Er verlässt sich auf sein Gefühl, auch weil er ihr trauen kann. Die Mischung aus aktueller Mordermittlung und dem durch sie heraufbeschworenen Schuld-und-Sühne-Drama verzichtet auf raffinierte Wendungen und baut klug auf die Geschichte hinter dem Fall. Das verspricht nicht viel Spannung, ist aber ein Fall, der dem deutsch-polnischen Kommissariat in Frankfurt/Oder gutsteht. Dror Zahavis „Hermann“ (RBB / Eikon Media) zeichnet eine Momentaufnahme aus dem Osten der Gegenwart, erinnert an Verbrechen und Versäumnisse in der Vergangenheit und macht deutlich, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Beim Entladen von Bauschutt ist die Leiche von Daniela Nowak vom Hänger gerutscht. Ratlos steht Kommissar Raczek im Schutzanzug zwischen Kohle und Asbest. Die toxische Ladung stammt von einer Baustelle in Cottbus. Ingenieurin Nowak beaufsichtigte dort die Sanierung eines Häuserblocks. Nach einem Abstecher in ihre durchwühlte Wohnung geht die Dienstreise von Frankfurt an der Oder ins Kommissariat nach Cottbus. An Raczeks früherer Wirkungsstätte freut sich Ex-Kollegin Luschke (Gisa Flake) über das unverhoffte Wiedersehen. Von nun an ermitteln die beiden gemeinsam – als hätten sie ihren letzten Fall erst gestern abgeschlossen. Der Zuschauer weiß zu diesem Zeitpunkt schon, wer in die Mordsache Nowak verwickelt sein könnte. Es geht um ungeklärte Besitzverhältnisse in einem der zu sanierenden Häuser. Vor Gericht treffen sich der widerwillig aus Israel angereiste Zvi Spielmann (Dov Glickmann) und die alteingesessene Hausbewohnerin Elisabeth Behrend (Monika Lennartz). Beide kannten sich als Kinder, beide wurden jetzt von ihren Kindern zu diesem Schritt gedrängt. Eine Immobilie lässt man sich in der heutigen Zeit nicht durch die Lappen gehen. Beide Parteien erheben Anspruch auf das Haus. In zweiter Reihe wartet der Immobilienmakler (Sven-Eric Bechtolf) ungeduldig auf den Urteilsspruch. Der Arbeitgeber der ermordeten Daniela Nowak hat Spielmann bereits „angemessen entschädigt“ und in diesem Fall viel zu verlieren. Das weiß auch Winklers ehrgeiziger Mitarbeiter Terweg (Julius Feldmeier). Auch Daniela Nowak, die bei der Begehung der Baustelle in Cottbus hinter einer nachträglich eingezogenen Wand auf versteckte Dokumente gestoßen war, wusste das.

Polizeiruf 110 – HermannFoto: RBB / Maor Waisburd
Es geht um ungeklärte Besitzverhältnisse in einem der zu sanierenden Häuser. Jakob Behrend (Heiko Raulin) verspricht seiner Mutter Elisabeth (Monika Lennartz), dass sie in ihrer Wohnung, dem Ort, an dem sie seit ihrer Kindheit lebt, bleiben kann.

„Hermann“ ist der 18. Fall des deutsch-polnischen Kommissariats in Frankfurt/Oder und immer noch möchte man kurz auf Google-Maps nachschauen, wo wir uns hier eigentlich befinden. Vor Ort setzt Regisseur Dror Zahavi („Zivilcourage“ / „Ein Hauch von Amerika“) die Gegensätze einer unfertigen Stadtlandschaft am Beispiel Cottbus in Szene. Bei seiner Ankunft steht Raczek vorm rausgeputzten Bahnhofsgebäude mit DB-Logo, nach dem Schnitt betritt er ein Polizeirevier, an dessen Außenwand schon lange der Putz bröckelt. Mutter Nowak (Gabriele Völsch) wohnt in einem schon wieder schäbig aussehenden Plattenbau, Immobilienmann Winkler thront im schicken Büropalast an der Peripherie. Zwischen diesen Welten suchen Raczek und Luschke nach dem Täter. Eher nebenbei, denn vor die Ermittlung rückt das Schuld-und-Sühne-Drama zwischen Zvi Spielmann, der als Kind noch Hermann hieß, und Elisabeth Behrend. In Kindertagen befreundet, inzwischen durch einen Verrat verfeindet, tragen beide schwer an den Verwerfungen deutscher Geschichte. Von den Verbrechen der Nazis über die Versäumnisse der DDR bis zum ignorierenden Kalkül westdeutscher Investoren. Der Fall zeigt, dass das Thema Restitution mehr als 75 Jahre nach Kriegsende noch nicht abgeschlossen ist und bricht das Dilemma auf persönliche Schicksale herunter. Dass Elisabeth Behrend ein „feiner“ Mensch sein will, unterstreichen schon die Tapeten in ihrer Wohnung. Wie sehr der emigrierte Zvi Spielmann als einziger Holocaust-Überlebender seiner Familie bis heute leidet, machen die knappen Dialoge zwischen ihm und Raczek klar. Dabei urteilt das Drehbuch (Mike Bäuml) nicht über die Schwere irgendeiner Schuld. Kommissar Racek fungiert in dem Fall nicht nur als Ermittler in einem Mordfall. Ehrlich interessiert fragt er immer nach der ganzen Geschichte. Zu den emotional stärksten Szenen des Films gehört die Hausbegehung des gebrechlichen Alten an der Seite des jungen polnischen Kommissars. Wenn Raczek durch ein Loch in der Wand in das ehemalige Versteck der Familie Spielmann steigt, hält der alte Mann das kaum aus.

Besonders überzeugend ist der „Polizeiruf 110 – Hermann“ in seinen emotionalen Momenten. Lautstark ausgetragene Konflikte wie ein Streit zwischen Spielmann und Winkler oder die offensichtliche Feindschaft zwischen Raczek und seinem früheren Vorgesetzten Oelßner (Bernd Hoelscher) wirken dagegen etwas steif: böse Blicke, ein erhobener Zeigefinger, die geschwellte Brust – all das kommt eher steril als bedrohlich rüber. Die Kamera (Gero Steffen) bleibt in allen Szenen meist auf Distanz. Interessant ist die Bildkomposition in den Totalen. Nicht nur bei Außenaufnahmen im leeren Nirgendwo zwischen Frankfurt und Cottbus stehen oft mehr als zwei Drittel Himmel über der Landstraße – auch einige Innenaufnahmen sind ungewöhnlich kadriert. Wenn Frau Behrendt ihren ehemaligen Spielkameraden Hermann zur Aussprache im Krankenhaus besucht, dominiert in der Totalen die sterile Klinikumgebung das Bild. Zwei alte Menschen, einer davon bewegungslos, wirken am unteren Bildrand fast winzig. Dabei reflektiert die Bildaufteilung sehr genau die Ohnmacht der Protagonisten. Während auf der Ermittlerebene Raczek den gefühlvollen Part übernimmt, führt Kollegin Luschke unbeirrt und selbstbewusst die nötigen Verhöre. Gisa Flake („4 Blocks“, „Ella Schön“) liefert als echte Type genau, was es für ein effizientes und für den Zuschauer interessantes Ermittlerdoppel braucht. Wie in vielen ihrer bisherigen Rollen verbindet sich in ihrer Figur gesundes Misstrauen mit Straßenköter-Herzlichkeit. Das ist nicht Olga Lenski. Die in den bisherigen 17 Fällen agierende Maria Simon findet in dem aktuellen Fall keine Erwähnung.

Polizeiruf 110 – HermannFoto: RBB / Maor Waisburd
Zvi Spielmann (Dov Glickmann) und seine Tochter Maya Spielmann (Orit Nahmias), die zu einem deutschen Gerichtsverfahren zur Klärung der Eigentumsverhältnisse eines Mietshauses nach Cottbus gereist sind, sind entsetzt über die Entscheidung des Richters. Die Kommissare (Lucas Gregorowicz, Gisa Flake) wundert gar nichts mehr.

Der RBB liefert mit „Polizeiruf 110 – Hermann“ ein nachdenkliches Zwischenstück der Reihe. Und tat gut daran, dem soliden, aber so gar nicht draufgängerischen Lukas Gregorowicz ein zupackendes Pendant zur Seite zu stellen. Gregorowicz entspricht so seinem bisherigen Rollenprofil, und der Fall überzeugt mit einer Geschichte, die im Osten Deutschlands am besten verortet ist. Für Fans raffiniert gestrickter Kriminalfälle ist das sicher zu wenig. Für Zuschauer, die sich für die Geschichte(n) hinter der Ermittlung interessieren, ist es eine glaubwürdige, sehenswerte Erzählung. Cottbus wird dabei eine einmalige Episode bleiben. Mit dem nächsten Einsatz kehrt Kommissar Adam Raczek nach Frankfurt/Oder zurück. Als neuer Kollege wartet ein frisches Gesicht, der Schauspieler André Kaczmarczyk (35). Der erste gemeinsame Fall wird im Herbst 2022 ausgestrahlt. (Text-Stand: 12.11.2021)

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Reihe

ARD, rbb

Mit Lucas Gregorowicz, Gisa Flake, Dov Glickmann, Orit Nahmias, Monika Lennartz, Sven-Eric Bechtholf, Bernd Hölscher, Heiko Raulin, Klaudiusz Kaufmann, Fritz Roth

Kamera: Gero Steffen

Szenenbild: Gabriele Wolff

Schnitt: Fritz Busse

Musik: Jörg Lemberg

Redaktion: Daria Moheb Zandi (RBB)

Produktionsfirma: Eikon Media

Produktion: Mario Krebs

Drehbuch: Mike Bäuml

Regie: Dror Zahavi

Quote: 7,46 Mio. Zuschauer (22,3% MA)

EA: 05.12.2021 20:15 Uhr | ARD

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