Polizeiruf 110 – Einer für alle, alle für Rostock

Sarnau, Hübner, Stauch, Tiefenbacher. Im Grenzbereich zwischen Sex und Gewalt

Foto: NDR / Christine Schroeder
Foto Rainer Tittelbach

Der „Polizeiruf 110 – Einer für alle, alle für Rostock“ ist kein Film, der sich vornehmlich mit der Ultra-Szene auseinandersetzt, das Milieu fungiert vielmehr als stimmiger Hintergrund einer Geschichte um Liebe und Verrat, Ehre und Integrität. Diese gewaltbereite, aber auf einen ungeschriebenen Ehrenkodex setzende Subkultur passt allerdings wie die Faust aufs Auge – auch für die privaten Szenarien der Kommissare. Dieser Film ist vor allem hart, weil er die Sympathiefiguren mit reinzieht in den ganzen Schlamassel rund um die „red Rostocks“, die es vor sieben Jahren in einer ihrer berüchtigten dritten Halbzeiten zu kräftig haben krachen lassen. Ein physischer, hoch intensiver Krimi, in der eine Hammerszene die nächste jagt.

Er ist wieder da. Stefan Momke (Lasse Myhr), nach sieben Jahren aus dem Knast entlassen, schleicht sich durch die Rostocker Hochhausschluchten und nimmt wieder Kontakt auf zu seiner alten Flamme Doreen (Lana Cooper). Seine Straftat: versuchter Mord während einer dritten Halbzeit, in der seine „red Rostocks“ ein „Match“ gegen eine andere Ultragruppe austrugen. Das Opfer war ein Polizist. Doreen und Olaf Potensen haben damals gegen Momke ausgesagt. Weiß dieser, weshalb er als einziger einsaß, obwohl möglicherweise auch die beiden anderen an der Tat beteiligt waren? Potensen jedenfalls hat es erwischt: Er wurde vor einen LKW gestoßen. Auch für die mittlerweile bürgerlich gewordene Ex-Ultra-Braut könnte es brenzlig werden, befürchten Bukow (Charly Hübner) und Katrin König (Anneke Kim Sarnau), die nach einer überwundenen versuchten Vergewaltigung ihren Dienst wieder angetreten hat. Doch Momke scheint nichts von dem Verrat zu wissen, gibt sich lammfromm und will offenbar nur den kleinen Thore sehen, der offensichtlich sein Sohn und nicht der von Doreens neuem Partner (Frederic Linkemann) ist. Wenig später dann postiert sich die Ex unter Zeugen vor Momke und sagt es ihm ins Gesicht: „Ich habe gegen dich ausgesagt.“

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Rituale der ganz harten Sorte. Man hat ja nichts außer der Gruppe & dem Stadion. Jan Ahrens (Till Wonka) und der Knastheimkehrer Stefan Momke (Lasse Myhr)

Der „Polizeiruf 110 – Einer für alle, alle für Rostock“ ist kein Film, der sich vornehmlich mit der Ultra- und Hooligan-Szene auseinandersetzt, das Milieu fungiert vielmehr als stimmiger Hintergrund einer Geschichte um Liebe und Verrat, Ehre und Integrität. „Es geht um ein bestimmtes Lebensgefühl, um das Fremdsein in der Welt“, betont Regisseur Matthias Tiefenbacher, „das spezifische Milieu der Ultra-Szenen ist nur einer von verschiedenen möglichen Zusammenhängen, in denen man diese Geschichte erzählen könnte.“ Diese gewaltbereite, aber auf einen ungeschriebenen Ehrenkodex setzende Subkultur passt allerdings wie die Faust aufs Auge – auch für die privaten Szenarien, die psychologischen Situationen, in denen sich beide Kommissare befinden. Bukow vernachlässigt nicht nur seine Körperpflege, auch seine Ernährung scheint er während Königs Auszeit auf Flüssiges umgestellt zu haben. Und die LKA-Frau ist längst noch nicht wieder auf dem Damm: Das Vergewaltigungstrauma setzt ihr zu, aber auch der Bericht vom Tathergang, den ihr Chef zeitnah fordert. Soll sie ehrlich sein oder pragmatisch? Soll sie den Bericht enden lassen mit „Ich bin außer Gefahr.“ oder mit „Ich bin außer mir, ich bin nicht bei mir, ich schlage mit dem Schraubenschlüssel auf seinen Kopf. Hauptkommissar Bukow hält mich von weiteren Schlägen ab.“?

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„Einer für alle und alle für Rostock“ – Straßenköter Bukow (Charly Hübner) weiß, wie man an seine Informationen kommt. Schlechte Karten für Jan Ahrens (Till Wonka)

Der Film ist hart, es ist vielleicht der härteste „Polizeiruf“ jener Rostocker Ermittler, die sich seit jeher „die Errettung der physischen Realität“ auf ihre Fahnen und ihre geschundenen Seelen und Körper geschrieben haben. Aber nicht, weil gleich in der ersten Szene gefightet wird zwischen zwei Ultra-Gruppen, weil Knochen krachen, weil sinnlose Brutalität waltet, weil das Testosteron die Hauptrolle übernimmt, oder weil kehlige Schlachtgesänge und kampfbereite Kolosse, Tattoos, Saufen und Männerschweiß für manch einen etwas Abstoßendes und Furchteinflößendes besitzen. Nein, dieser Film ist vor allem hart, weil er die Sympathiefiguren mit reinzieht in diesen ganzen Schlamassel. Weil der Film erzählt von Menschen, denen die „Normalität“ abhanden gekommen ist. Die nur etwas empfinden, wenn es körperlich weh tut oder wenn sie von einem Mord, einem Mörder, herausgefordert werden. Mit dem beiläufigen Satz, „das ist genau das, was ich mir heute morgen gewünscht habe“, eine Leiche zum Frühstück, beendet denn auch die Kommissarin ihre Reha-Zeit.

Nicht nur die Ultras leben in einer Parallelgesellschaft, auch Bukow, der immer schon ein Straßenköter mit hoher Gewaltbereitschaft war, und jetzt sogar König, die nach dem Angriff auf ihren Vergewaltiger emotional ganz unten ist, zeigen ein ähnliches Verhalten, um sich und den anderen zu spüren. Die einen besaufen und kloppen sich mit Fäusten, die anderen besaufen und provozieren sich mit Worten. Das Drehbuch von Wolfgang Stauch macht aus diesen psychologischen „Verwandtschaftsverhältnissen“ nicht die in Krimis so beliebten dualen Projektionsspielchen, sondern deutet das alles nur vorsichtig an. Während des Films dürfte ohnehin jeder Zuschauer gebannt sein von der ungemein dichten Handlung, einem narrativen Gefüge, das immer wieder auf überraschende Weise von Sex und Gewalt durchzogen ist. So erkennt man auch vielleicht erst hinterher, dass sich Katrin König heute in einer durchaus vergleichbaren Situation wie das Ultra-Girlie vor sieben Jahren befindet: Was sagt sie aus? Was könnten mögliche Folgen sein? Auch die Kommissarin könnte den für sie bequemeren Weg gehen und die Körperverletzung im Amt unter den Tisch fallen lassen. Dann aber müsste sie wie jene Doreen eines Tages die Rückkehr des Gewalttäters (be)fürchten.

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Alte Liebe bis aufs Messer. Doreen (Lana Cooper) hat zwar einst gegen Momke (Lasse Myhr) ausgesagt und ihn in den Knast gebracht, Angst aber hat sie nicht.

„Einer für alle, alle für Rostock“ setzt von Beginn an auf einen extrem physischen Erzählstil. In einer fiebrigen Parallelmontage werden – und das sicher nicht nur aus formalästhetischen Gründen – der rituelle Kampf der beiden Ultragruppen und der erste Präsidiumsgang der sichtlich nervösen König nach Wochen (zu den Klängen von U2s „Love Is Blindness“) gegeneinander geschnitten. Es folgen dichte Szenen auf dem Kommissariat, telegene Video-Einspielungen, einige wuchtige Zugehörigkeitsbeweise unter Männern, wölfisches Gebrüll mal mit mal ohne Rudel, Verfolgungsjagden und Observationen im Schatten der Plattenbauten, ein Handgemenge mit Rasiermesser und immer wieder unvorhersehbare Übergriffe im Grenzbereich zwischen Sex („richtig hart gefickt“) und Gewalt („Nächstes Mal stehst du nicht mehr auf“). Eine Hammerszene jagt die nächste, so packend war der (fast) immer außergewöhnliche NDR-„Polizeiruf 110“ noch nie. Sind in anderen Krimis die Ermittlungen meist abgespalten von der Tat, sieht man da zwei Welten und zwei Zeitebenen miteinander ringen, so hat man bei diesem Film den Eindruck, dass hier alle Ebenen ständig miteinander in Beziehung stehen. Das hat vor allem auch mit dem Verhältnis der Kommissare zu tun, in dem es nach den professionell ausgedachten Buchideen der ersten Filme nun zunehmend ans Eingemachte geht und in dem eine Intensität erreicht wird, die die Fälle noch übertrifft. Eines Nachts geben sich beide, obwohl sie wissen, dass sie ihre Ernährung umstellen sollten, die Kante. „Tanzen Sie mit mir“, sagt König. „Ich kann nicht tanzen“, entgegnet Bukow. „Dann stellen Sie sich in die Mitte und ich tanze um sie rum.“ Gesagt, getan. Eine atemberaubende Szene. Das Gesicht des einen fast im Gesicht des anderen, die Körper auf Tuchfühlung. „Wir machen uns kaputt, wir tun uns nicht gut“, stottert König. Und Bukow gesteht, nicht ohne mit Nachdruck & Ironie darauf hinzuweisen, dass dies keine Liebeserklärung sei: „Sie sind inzwischen der Mensch auf der Welt, der mir am meisten bedeutet.“ (Text-Stand: 25.4.2017)

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Reihe

NDR

Mit Anneke Kim Sarnau, Charly Hübner, Lana Cooper, Lasse Myhr, Andreas Guenther, Josef Heynert, Uwe Preuss, Shenja Lacher, Till Wonka, Anna König, Frederic Linkemann, Fanny Staffa

Kamera: Hanno Lentz

Szenenbild: Sonja Strömer

Kostüm: Susanne Witt

Schnitt: Horst Reiter

Musik: Warner Poland, Kai-Uwe Kohlschmidt, Wolfgang Glum

Soundtrack: u.a. U2 („Love Is Blindness“), Barbara Moleko („Hater“), Lee-la Baum („Love Is Blindness“)

Produktionsfirma: filmpool fiction

Drehbuch: Wolfgang Stauch

Regie: Matthias Tiefenbacher

Quote: 6,58 Mio. Zuschauer (22,2% MA)

EA: 28.05.2017 20:15 Uhr | ARD

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