„Trinken, um zu vergessen. Trinken, um zu vergessen, dass man trinkt. Trinken aus Frustration.“ Henry Koitzsch (Peter Kurth) kennt seinen Jack London. Auch ihn hat „König Alkohol“ fest im Griff. Kein Wunder, der aktuelle Fall des Hallenser Kommissars ist der reinste Horror. Ein achtjähriges Mädchen ist ermordet worden. „Sexueller Missbrauch sehr wahrscheinlich“, spricht Koitzsch auf sein Diktiergerät. Diese Distanz tut not. Seinen jüngeren Kollegen Michael Lehmann (Peter Schneider) versucht er zunächst, so gut es geht rauszuhalten aus dem belastenden Fall. Er möchte den feinfühligen und gläubigen Familienvater schützen. „Ich brauch’
dich ausgeruht, Michi. Guck mich an. Willst du, dass hier zwei Zombies ermitteln?“ Die kleine Inka wurde in einer Kleingartenanlage gefunden. Hier muss sich das introvertierte Mädchen häufig aufgehalten haben. Ihre Eltern (Katrin Hansmeier und Matthias Walter) haben sich offenbar nicht allzu sehr gekümmert um ihre Tochter. An der Schule der Toten trifft Koitzsch eine alte Bekannte, Monika Hollig (Susanne Böwe), zuletzt saß sie ihm als Blind Date gegenüber, jetzt als Schuldirektorin. Wo man hinschaut: Alle sind fassungslos. Auch der dicke Krein (Sascha Nathan), Inkas Mathe- und Nachhilfelehrer. Der kümmert sich jetzt umso mehr um die kleine Juli (Romy Miesner). Man wird doch wohl noch „seinem Mädchen“ ein Eis spendieren dürfen…
Die „Polizeiruf“-Kommissare aus Halle machen in einer ähnlichen, realistischen und filmisch ausgeruhten Grundtonlage weiter wie bei ihrem fulminanten Einstand „An der Saale hellem Strande“ (2022). Sie nehmen sich Zeit, viel Zeit. Bei Koitzsch fordert der Alkohol Tribut, bei Lehmann ist es seine Sensibilität, die ihn bremst. Die beiden sind Ermittler im Staatsdienst, für Drehbuchautor Clemens Meyer und Regisseur & Koautor Thomas Stuber („In den Gängen“, „Tatort – Angriff auf Wache 08“) – sie verantworteten auch die Auftaktepisode – sind es vor allem aber Menschen. Zwei Männer, die sich kennen, sich mögen, sich vertrauen und deren Beziehung keine künstlichen Konflikte braucht. Selbst Koitzschs Alleingänge nimmt ihm Lehmann nicht lange übel – und so sitzen sie, kurz bevor das von tiefer Lebenserfahrung und stoischer Melancholie getragene Krimi-Drama zur Schlussoffensive übergeht, auf einer Bank in der heruntergekommenen Kleingartenanlage und nehmen einen tiefen Schluck aus dem Flachmann, den Koitzsch immer dabeihat. Zuvor hatte er mit dem Rechtsmediziner (Andreas Leupold) und einem Ex-Kollegen (Andreas Schmidt-Schaller) den Tag der Volkspolizei gefeiert und sich von den noch älteren Hasen wichtige Erkenntnisse aus einem DDR-Triebtäterfall geholt, derweil Lehmann, einst Krankenpfleger von Beruf, ausgerechnet mit der Befragung einer dementen Frau den entscheidenden Hinweis bekommt. Unaufgeregt bringen sie den Fall zu Ende, obgleich noch komplizierte Verhöre und eine Tragödie auf sie warten.
Obwohl „Der Dicke liebt“ viel Krimi-Typisches enthält, zwei Kommissare, eine Leiche, einen Gerichtsmediziner, der aufklärt über die unschönen Details des Mordes, einen Whodunit, ein moderates Mehrwissen des Zuschauers und damit verbunden eine Ahnung, wer der Mörder sein könnte, und dies alles mit authentisch wirkenden Charakteren und erschreckenden Drama-Momenten kurzgeschlossen wird, wirkt dieser „Polizeiruf“ ungewöhnlich, ja, im besten Sinne altmodisch. In welchem Krimi betet ein Kommissar für eine vermisste Person? Und welcher Kommissar versucht schon, seinen Kollegen zu schonen oder einen trauernden Hinterbliebenen mit einem Schnäpschen zu beruhigen, nachdem er sich selbst ein Schlückchen genehmigt hat? Es ist auch nicht üblich für einen Polizisten, eine Zeugin in den Arm zu nehmen oder Fall-Interna auszuplaudern. Und schon gar nicht, jemandem mit dem Kopf eine blutige Nase zu schlagen, selbst wenn das Gegenüber Anführer eines gewaltbereiten Mobs ist. Und es ist auch eher unüblich, dass ein ermittelnder Kommissar gleich zu Beginn in Schlangenlinien Auto fährt – und anschließend ohne Führerschein dasteht. Und dass ein Fall, der allen Beteiligten an die Nieren geht, launig und ironisch beginnt – mit einer Alkohol-Kontrolle („Oh!“) und einer köstlichen Szene beim Polizeipsychologen mit lustvollem Literatur-Rezitieren und der absurden Aufgabe, Kugeln zu stapeln, ist ebenso ungewöhnlich, zeigt allerdings, wie wichtig Stuber und Meyer der Eigen-Sinn der Charaktere ist.
Später nimmt der schockierende Fall die Kommissare sichtlich mit, die Molltonart setzt sich durch – und doch prägen weiterhin die Hauptfiguren die Stimmung in diesem Film. Dabei entwickeln die Macher eine Art episches Erzählen. Häufig berichtet Koitzsch dem Kollegen von dem, was er bereits ermittelt hat, und Lehmann folgt den Spuren des ermordeten Mädchens. Dazu gibt es passende Bilder, mal sind es Rückblenden, mal Vorstellungen, in denen Inka wieder zum Leben erweckt wird. Die emotionale Geschichte bekommt so einen sachlichen, analytischen Zugang; dazu passt der reduzierte Score, manchmal reicht ein wenig Klavier. Es ist ein dem Fall angemessener, im Primetime-Fernsehen selten gewordener Erzählmodus: Indem man dem Thema keine klassische Spannungsdramaturgie überstülpt, läuft man weniger Gefahr, die Kindstötung für Unterhaltungszwecke zu „missbrauchen“.
Vom Whodunit sollte man nicht zu viel verraten. Natürlich spielt der „Dicke“, der liebt, eine zentrale Rolle in dem Film. Natürlich ist er ein „armes Schwein“, wie Koitzsch vermutet, der eines Abends in dessen Wohnzimmer sitzt, umgeben von einem Meer aus Plüschtieren. Ein bizarres Bild. Ist dieser Mann allein das Pendant zum Frusttrinker Koitzsch, ein Frustfresser, ein Bauch gewordener Mensch? Oder ist er tatsächlich „ein Kinderficker“, der sich an „seinen Mädchen“ vergeht? So oder so, wie sich das Gesicht von Peter Kurth einmal mehr in die Erinnerung des Zuschauers einschreibt, so wird es bei Sascha Nathan sein Körper sein, das ständige Schwitzen, das man nicht vergisst. Denn es ist Sommer, und es ist heiß in Halle.