Magdeburg bei Nacht. Die Stadt ist ausgestorben. Selbst die Straßen sind leer. Nur eine junge Frau holt sich an der Tanke eine Flasche alkoholfreien Sekt. Wenige Augenblicke später gibt es für sie nichts mehr zu feiern. Denn wie aus dem Nichts taucht plötzlich mit 150 km/h ein Fahrzeug auf – und reißt sie beim Überqueren der Straße mit. Die Frau hatte Kopfhörer auf und das heranpreschende Auto offenbar nicht gehört. Und der Fahrer? Ein einsamer Raser? Ein Mitglied von „Le Magdeburg“, einer Gruppe von Männern, die nachts illegale Auto-Rennen austragen? Oder einer, der es bewusst auf diese junge Frau abgesehen hat? Der Fall ist eine große Herausforderung für Doreen Brasch (Claudia Michelsen) und Dirk Köhler (Matthias Matschke), die gerade dabei waren, besser miteinander auszukommen. Jetzt hätte Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler) der wütenden Kommissarin fast noch einmal eine Therapiestunde beim Polizeipsychologen Niklas Wilke (Steven Scharf) verordnen müssen. Aber dann einigen sich Brasch und Köhler auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die oder den Todesraser. Über das Internet und eine gemeinsame Nacht-und-Nebel-Aktion können fünf Tatverdächtige ausgemacht werden: ein Bonzen-Söhnchen (Anton Lucke), ein Pakete-Ausfahrer (Dennis Mojen), ein vorbestrafter Autohändler (Dirk Borchardt), ein verheirateter Messebauer (Gerdy Zint), ein Spielsüchtiger mit Privatinsolvenz (Jeff Wilbusch). Die Kommissare wollen mit einem Zeugenschutz-„Angebot“ das schwächste Glied aus der Kette reißen – und mit dessen Hilfe den Mörder überführen. Der Fall verkompliziert sich dann allerdings erheblich durch private Verbindungen zwischen dem Opfer und den möglichen Tätern. Einer betrachtet das alles mit resignativer Entrücktheit: der Vater der Toten, Klaus Wagner (Ben Becker), der offenbar ein sehr enges Verhältnis zu seiner Tochter hatte.
Der MDR-„Polizeiruf 110 – Crash“ behandelt einen Fall, der nicht unbedingt typisch ist für eine Mordkommission, der sich aber sehr gut eignet für einen Krimi mit deutlicher Drama-Färbung. Außerdem passen die illegalen nächtlichen Auto-Rennen sehr gut zur Tonlage der meist düsteren Krimis aus Magdeburg, in denen es ja schon häufiger um die kleinen und größeren Süchte ging, die den Menschen das Leben erträglicher machen. Beim Thema (Hochstimmung durch) Geschwindigkeit kann auch Claudia Michelsens Kommissarin mitreden. Sie weiß, was das Rasen mit einem machen kann – und sie hat entsprechend auch gleich eine Theorie für die Kamikaze-Fahrer parat: Es gehe um den Rausch, den besonderen Kick, um die Suche nach einer letzten Möglichkeit, sich selbst zu spüren. Ihr Motorrad musste Brasch abgeben; als Ersatz hat sie dafür einen PS-gewaltigen Dienstwagen, mit dem sie es während einer Verfolgungsjagd schon mal auf 250 km/h bringt. Einen gemeinsamen Stil hat endlich auch das Ermittler-Duo gefunden, wobei die zunehmende Akzeptanz des Kolllegen sich hier erfreulicherweise nicht in witzelnder Buddy-Atmosphäre niederschlägt. Das erinnert schon eher an das legendäre Pärchen Schimanski/Thanner, das eine ganze Weile miteinander fremdelte, bevor jeder den anderen respektierte als das, was er ist. Auch Brasch und Köhler werden bleiben, was sie sind: Sie, der strategisch denkende coole Einzelgänger, eine Frau, die immer das große Ganze im Blick behält und sich nicht von Gefühlen hinreißen lässt; er, der empathische Familienvater, der kompetent und gewissenhaft seine Fälle abarbeitet, und der mittlerweile gelernt hat, zu seiner schroffen Kollegin auf Distanz zu gehen. Mit dieser dezenten Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen ist man bei diesem „Polizeiruf“-Ableger, was die Interaktion der Kommissare angeht, auf einem guten Weg. Auch der adrette Polizeipsychologe, der die Brasch von der Couch ins Bett kriegen will, bleibt im Spiel. Erstmals „nur“ als Seismograf für das Seelenleben der Heldin, der es mal wieder grandios gelingt, die sexuelle Anziehung zwischen den beiden mit nur einem Satz zu killen.
Einer von vielen Dialogwechseln, die sich hören lassen können: zwischen Kommissarin Brasch (Michelsen) und „Autohändler“ Reinhardt (Borchardt)
Reinhardt: „Wenn Sie dabei waren und zugehört haben, dann haben Sie auch gehört, dass ich nichts von der Sache weiß.“
Brasch: „Hat die Wehrmacht auch behauptet.“
R.: „Das ist aber mal ein schöner Vergleich.“
B. lächelt
R.: „Gut, die Jungs kommen nicht zu mir. Da lässt sich keiner vom anderen unter die Haube gucken. Das ist so ein bisschen wie mit Unterwäsche.“
B.: „Das ist auch mal ein schöner Vergleich.“Ein Mann, dem einiges zuzutrauen ist: Ben Becker spielt den Vater des toten Mädchens und er bringt die Drama-Komponente in den Krimi ein. „Eigentlich kann ich mir ‘ne neue Scheibe gar nicht leisten“, sagt er. Die Kommissare, die ihn in seinem Plattenbau befragen, wissen nicht, was er meint – da holt er zum Schlag aus und haut mit der Faust in die Fensterscheibe. Offenbar hat auch er – wie die Geschwindigkeits-Junkies – das Problem, sich selbst nicht mehr spüren zu können. Während seine Frau Drogen brauchte, sucht er den physischen Schmerz, um an seine Psyche zu kommen. In diesem Mann ist mehr Wut als Trauer.
Erzählt wird in „Crash“ ein komplexer Whodunit, der dramaturgisch ungewöhnliche Wege geht. Die Verwendung von Ellipsen, was man narrativ für eher antiquiert halten könnte, sorgt letztlich für einen knackigen guten Endzweck. Da winkt Brasch mit einem „Angebot“ für den verunsicherten Familienvater, und wenig später kooperiert auch der vorbestrafte Autohändler: „Ich erzähle Ihnen was – und Sie lassen mich dafür in Ruhe.“ Beide Male passiert anschließend das, was Dani Levy unlängst in seinem One-Shot-„Tatort“ als typisches Krimihandlungsklischee ironisch desavouiert hat: nämlich nichts. Der Zuschauer erfährt erst auf der Zielgeraden, was den Kommissaren da so alles zugeflüstert wurde. Heute ist das eine ungewöhnliche Erzählstrategie, zeichnen sich die meisten (besseren) Krimis der letzten Jahre eher dadurch aus, dass der Zuschauer ein moderates Mehrwissen besitzt, um sich so leichter einen Reim auf alles machen zu können (und um an der Ermittlung quasi „aktiv“ beteiligt zu sein). Drehbuchautor Wolfgang Stauch („Polizeiruf 110 – Einer für alle, alle für Rostock“) macht es anders – und wider Erwarten funktioniert es gut: Denn das, was dem Zuschauer an wichtigen Ermittlungsergebnissen vorenthalten wurde, wird umso konzentrierter in zwei Schlussverhören präsentiert. Hier wird der Fall komplett durchgespielt, mit kompakten Ausführungen der Kommissare und einigen Rückblenden in die besagten, aber im On nicht näher ausgeführten Deals mit den auskunftsfreudigen Rasern. Obgleich in diesen Szenen viel geredet wird, hat man nie den Eindruck, der Zuschauer werde zugetextet oder ihm werde gar etwas erklärt. Vielmehr ermöglicht es dem Zuschauer, die akribische Rekonstruktion jener verhängnisvollen Nacht, die Ereignisse und Motive, bis ins Detail zu verstehen. Während also andere Krimis den Zuschauer gern die meiste Zeit an der langen Leine lassen und viele Optionen andeuten, bevor die Auflösung oft nur teilweise Licht ins Dunkel bringt (weil Autoren & Regisseure, die sich monatelang mit der Geschichte beschäftigt haben, den Zuschauer und seine Aufnahmefähigkeit überschätzen!), hält Stauch den Zuschauer kurz, um ihn am Ende alles umso klarer wissen zu lassen. Irgendwie auch mal ein schönes Gefühl…
Nicht vergessen werden sollte, dass zum Gelingen dieses „Polizeirufs“ neben Drama-Hochkarätern wie Michelsen, Matschke & Becker auch Regisseur Torsten C. Fischer maßgeblich beigetragen hat, der den Stoff in einem unaufdringlichen, farbentsättigten Realismus in Szene setzte, ohne großen Glanz (Ausnahme: der Chrom & der Lack der Liebesobjekte) und gedreht zum großen Teil bei Nacht.