Oberkommissarin Bessie Eyckhoff (Verena Altenberger) hat sich im Dienst bewährt und wurde zur Münchner Mordkommission befördert. Hier darf sie in einem Marathonverhör gleich zeigen, was sie kann. Sie muss einen Studenten knacken, dem ein Mord und ein versuchter Mord zur Last gelegt werden. Und das bis Mitternacht. Sonst wäre Jonas Borutta (Thomas Schubert), ein seltsamer junger Mann, der so pedantisch und oberschlau daherredet und dessen Taten keine Sexualverbrechen eines typischen Triebtäters zu sein scheinen, erst mal wieder auf freiem Fuß. Wie vor drei Jahren. Damals hat sich Josef Murnauer (Michael Roll) an ihm die Zähne ausgebissen. Sein Nachfolger Martin Schaub (Christian Baumann), eher Schreibtischchef als Kriminaler, überlässt Elisabeth Eyckhoff das Weichkochen, traut ihr dann allerdings doch nicht mehr zu, den Mann zu einem Geständnis zu bewegen. „Frau Eyckhoff schwächelt.“ Der Rest des „Krisenstabs“, Dorfmeister (Robert Sigl), Hader (Daniel Christensen) und Staatsanwältin Ehrmann (Birge Schade), sieht das ähnlich. Bald ist es 22.30 Uhr. Jetzt kann nur noch einer helfen: Murnauer. Eyckhoff ist erst mal bedient, hat aber noch einen Trumpf im Ärmel – Boruttas zweites Opfer: Susanne Michl (Emma Jane). Die wurde lebensgefährlich verletzt, ist aber dennoch bereit für eine Konfrontation mit dem Täter.
Foto: BR / Provobis
„Mir steht es doch auch zu – die Liebe, die Zärtlichkeit, der Sex.“ Eine Frauenstimme spricht über einem Mangel und eine tagtägliche Erfahrung, die als Demütigung empfunden werden kann. Sie beschreibt das sichtbare Glück der Anderen, der Schönen, der Verliebten, der sexuell Aktiven. Es ist die Stimme der Kriminaloberkommissarin, suggestiv über die Bilder vom lustvollen Münchner Sommer gelegt. So beginnt der „Polizeiruf 110 – Bis Mitternacht“, der vierte mit Verena Altenberger, die die Wehmut über Matthias Brandts Abgang ebenso rasch wie überraschend verfliegen ließ. Zu diesem Zeitpunkt hat Eyckhoff den mehr als nur tatverdächtigen jungen Mann bereits fast drei Stunden in der Mangel. Sie hat den stummen Studenten mit dem sensiblen Nervenkostüm und dem zwanghaften Wesen zum Reden gebracht. Diesem von den schönen Dingen des Lebens Ausgeschlossenen fehlt es an Kontakt. Er will reden, doch keiner hört ihm zu. Bei diesem großen Kommunikationsbedürfnis setzt die Kommissarin an. Sie gewinnt Boruttas Vertrauen, sie versucht, aus der Polizistinnen-Rolle in die Rolle der Psychotherapeutin zu rutschen. Und sie ist eine attraktive Frau. Wenn schon kein Sex, dann doch wenigstens durch Worte Nähe zu dieser „Person weiblichen Geschlechts“ herstellen. Die Strategie ist die richtige, verständlich ist aber auch die Unruhe der Kollegen. Die Zeit rennt. Die eingeblendete Uhr zeigt es auch dem Zuschauer immer wieder an.
Foto: BR / Provobis
Jetzt hat Murnauers Stunde geschlagen. Der für diese Nacht reaktivierte Kripo-Professional sorgt vor allem dramaturgisch für Abwechslung. Dazu gehört auch, dass der Journalist und Filmkritiker Tobias Kniebe, der nach „Fremder Freund“ (2003) hier sein erstes allein verfasstes Drehbuch vorgelegt hat, diesen Charakter nicht zum Buhmann macht, sondern ihn als umsichtig-sympathischen Kriminaler mit viel Erfahrung zeigt, dem es offenbar nur um das Ergebnis geht. Während die eigene Befindlichkeit, die Wut über den fehlenden Rückhalt bei ihrem Chef, die Heldin kurzzeitig ausbremst, sitzt die (verdrängte) Emotion bei Murnauer einfach nur tiefer, ist versteckter: Dieser Fall jedenfalls hängt ihm nach, sein Scheitern als Verhörführender damals; jetzt würde er gern alles besser machen und sich von dieser Altlast befreien. Michael Roll, jahrelang im leichten Fach unterwegs und hier in seiner vielleicht besten Rollen nach seinem Trinker-Bullen in der ZDF-Reihe „Kommissarin Lucas“, gibt seinen Ex-Kommissar verbindlich und offen, gemeinsam mit der jungen Kollegin will er Borutta knacken. Auch er kann zuhören und eine gute Gesprächsatmosphäre schaffen. Und so tauscht er den Verhörraum gegen ein Büro. Wie er das Zimmer präpariert, damit die äußeren Zeichen Nähe erzeugen – das ist für den Zuschauer nicht weniger aufregend als das folgende Verhör, bei dem sich die ehrgeizige Jungpolizistin und „der alte Depp“, wie sich Murnauer selbst bezeichnet, gegenseitig hochschaukeln. Borutta ist sichtlich erfreut, zwei Menschen gefunden zu haben, die ihm zuhören, aber Anstalten, die Taten zu gestehen, macht er nicht.
Foto: BR / Provobis
Das Verloren-Sein des Antagonisten könnte zum Knackpunkt des Verhörs werden. Autor Kniebe deutet es an – und er spielt im Dialog mit den Bedeutungen des Begriffs. „Wir haben hier nichts mehr verloren“, sagt Murnauer, ohne auf den Subtext des Satzes zu achten, nachdem er glaubte, den sich nach Heilung sehnenden Borutta („Niemand kann sich vorstellen, was ich jede Nacht durchmache“) mit einer klugen Paradoxie („Mörder haben die besten Psychiater“) in die Falle locken zu können. Jetzt glaubt er, das Spiel ein zweites Mal verloren zu haben. Fast im selben Atemzug prophezeit die Kommissarin dem Beschuldigten, was ihm „nach Mitternacht“ blüht: „… dann hast du mich verloren.“ Die Dichte des Drehbuchs mit seiner wirkungsvollen Kammerspiel- und Echtzeit-Konstruktion sind die Grundlage für ein enorm packendes Krimi-Drama, das darüber hinaus die Psyche des Täters natürlich aus der Handlung heraus bespiegelt, sie durch das verbale Agieren der Kommissare vertieft und somit diese Explosion von Gewalt ein Stück weit verstehbar oder zumindest nachvollziehbar macht. Von einem Whodunit-Krimi kann all das in der Regel nicht geleistet werden. Aber auch die dramaturgische Feinarbeit stimmt: Da sind die Perspektiv-Wechsel beim Verhör – hier die Aktiven, dort die Kommentatoren hinter der Glasscheibe; da sind die Sprünge in die Vergangenheit, die Ermittlungsgeschichten der beiden Fälle, der Isarauenmörder und der Messerstecher vom Olympiadorf, die nun ein Fall geworden sind.
Auch die Inszenierung von Dominik Graf beweist dessen große Klasse. Während der elffache Grimme-Preisträger in einigen seiner Reihen-Krimis wie „Tatort – Aus der Tiefe der Zeit“ (2013) oder dem zweiten Eyckhoff-Fall, dem „Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ (2019), autorenfilmhaft vogelwild an die Grenzen des Primetime-Krimifernsehens gegangen ist, steht nun „Bis Mitternacht“ in bester Tradition seiner preisgekrönten Ausnahme-Krimidramen wie „Polizeiruf 110 – Der scharlachtote Engel“ und vor allem dem Verhörfilm „Er sollte tot“ mit Rosalie Thomass. Reduziert und konzentriert auf den Raum und die Charaktere, dazu die Geschichte ergänzende Rückblenden, abwechslungsreich sinnlich, assoziativ, aber verständlich in die Verhörsituation eingefügt, motiviert durch die Herren im Nebenraum, die noch einmal alle bisherigen Fakten der Fälle sammeln: Solche Filme mögen nicht nur Kritiker! Die Herren und die eine Dame in der zweiten Reihe, denen die eher passive Zuschauerrolle zufällt, sind gut zu einem stimmigen Ensemble gecastet. Sie sind immer spürbar als eine diffuse Gegenkraft, eine Gruppe, ein Supporting-Actors-Kollektiv, aus dem keiner heraussticht. Und das ist wortwörtlich gemeint: Graf taucht die Szenerie in ein stimmungsvolles Zwielicht. „Das ist die irrste Vernehmung, die ich je gesehen habe“, sagt am Ende die Staatsanwältin – und die unbezahlten Zuschauer können ihr da nur beipflichten.