Ein größerer Kontrast zur letzten Episode ist kaum denkbar: „Im Schatten“ war eine Kombination aus Polizeifilm und Mafia-Thriller, die ihre Spannung jedoch vor allem aus den Feindseligkeiten innerhalb des Teams bezog. Die sind in der Folge „Angst heiligt die Mittel“ zwar nicht ausgeräumt, aber man kommt wieder miteinander aus. Das Drehbuch von Grimme-Preisträgerin Susanne Schneider („Fremde, liebe Fremde“) knüpft ohnehin nur zart und angenehm beiläufig an die Vorgeschichte an: Bukow (Charly Hübner) ist durch den Wind, weil sein Vater nach einer Operation im Koma liegt, und die Bewerbung von Katrin König (Anneke Kim Sarnau) als Leiterin der Abteilung Operative Fallanalyse beim LKA in Berlin war erfolgreich. Als sie die Kollegen mit Champagner überraschen will, ist das Revier verwaist: Diesmal geht es nicht gegen die Mafia, sondern um einen Mord auf dem Land.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Es hat eine lange Tradition, Großstadtpolizisten in die Provinz zu schicken, wo sie es nicht mit hartgesottenen Berufsverbrechern, sondern mit Menschen aus der Nachbarschaft zu tun bekommen. Auch Schneider schlägt viel Kapital aus der Konfrontation der Städter mit den Landeiern, die in Geschichten dieser Art meist etwas klischeehaft geraten. Das ist diesmal nicht anders, aber zumindest die Rahmenbedingungen hat die Autorin der Realität abgeschaut: Die Menschen in Bassow sind in Aufruhr, seit gleich zwei Sexualverbrecher ins Dorf gezogen sind; der eine ein „Kinderschänder“, der andere ein Vergewaltiger. Am Gartenzaun hängen unzweideutige Aufforderungen zur Lynchjustiz. Die beiden entsprechen dem gängigen Fernsehfilmstereotyp solcher Männer: Der fragile Päderast ist unscheinbar und kümmert sich um den Haushalt, sein Knastkumpel ist ein ungehobelter tätowierter Biertrinker im Unterhemd. Als eines Tages eine obdachlose Frau tot auf einer Bank gefunden wird, steht für die Bassower außer Frage, wer die Tat begangen hat; tatsächlich scheinen die Indizien zu belegen, dass der Vergewaltiger Kukulies (Markus John) zumindest an der Tat beteiligt war. Als sich sein Mitbewohner kurz darauf das Leben nimmt und Kukulies spurlos verschwindet, sind aus Sicht der Dorfbewohner alle Zweifel beseitigt; aber nicht für Bukow und König.
Christian von Castelberg hat mit „… und raus bist du!“, „Einer trage des anderen Last“ und „Sturm im Kopf“ ausgezeichnete bis herausragende Filme mit dem Rostocker Team gedreht. „Angst heiligt die Mittel“ unterscheidet sich nicht nur inhaltlich, sondern auch handwerklich von seinen bisherigen Episoden. Das gilt vor allem für die Bilder, weil Kameramann Martin Farkas, mit dem der Regisseur auch bei den anderen „Polizeiruf“-Krimis zusammengearbeitet hat, dem im Hochsommer gedrehten Krimi fast so etwas wie Urlaubsstimmung verleiht. Sogar das sonst eher triste Revier wirkt in der tiefstehenden Morgensonne fast heimelig. Auch Bassow ist auf den ersten Blick ein sympathischer Ort. Für die Einwohner gilt das nicht. Schon ihr Erscheinungsbild sorgt dafür, dass alle etwas zwielichtig und heruntergekommen anmuten, auch wenn es sich nur Details wie ungewaschenen Haare oder abgenutzte Kleidung handelt. Außerdem begegnen die Menschen den Eindringlingen aus der Stadt mit Misstrauen; die Mauer des Schweigens ist ein weiteres typisches Merkmal solcher Geschichten.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Auch das Tempo ist der Umgebung angemessen. Im Vergleich zu den Stakkatosequenzen aus „Sturm im Kopf“ ist die Schnittfrequenz diesmal geradezu gemütlich. Die Handlung wiederum, ein weiteres Kennzeichen des Provinzkrimis, ist umso grausiger. Die Details der Tat sind ausgesprochen widerwärtig, und das erst recht, als sich herausstellt, dass das Opfer nichts anderes als das im Titel angesprochene Mittel zum Zweck war. Die Dorfbewohner entpuppen sich als die wahren Monster, und nun wird die Geschichte endgültig unangenehm – denn Kukulies ist keineswegs abgehauen… Und so ist „Angst heiligt die Mittel“ am Ende zwar ein fesselnder Krimi, aber alles andere als „angenehme“ Unterhaltung ist. Dafür sorgt auch eine versuchte Vergewaltigung, die allein den ansonsten schlüssig-flüssigen Handlungsfluss stört. Kurz zuvor hatte Kukulies noch sein Leben riskiert, um den Jungen zu retten, aber die dadurch gewonnenen Sympathien verspielt er umgehend wieder: Kaum sieht er König, die ihn bei der ersten Begegnung provoziert hatte, fällt er mit irrem Lachen über sie her.
Der Realismus, mit dem von Castelberg diesen Moment inszeniert, ist angemessen drastisch. Die Szene ist daher so etwas wie ein Gegenentwurf zu einem unterschwellig romantischen nächtlichen Zwiegespräch im Auto, als König wissen will, was Bukow von ihren Berlinplänen hält. Dass die beiden nach wie vor Sie zueinander sagen, erhöht den Reiz dieses Augenblicks noch. Der Verzicht auf überflüssige Erklärungen ist ohnehin eine der Stärken dieses Films: Kinder entdecken die reglose Frau auf der Bank und werfen mit Steinen nach ihr; das nächste Bild zeigt eine Kolonne von Polizeiautos. Einmal allerdings wird das Offensichtliche auch ausgesprochen, doch diesmal muss das auch sein: Am Schluss lässt sich Bukow für seine Verhältnisse fast zu einem Liebesgeständnis hinreißen, als er die Kollegin bittet, nicht zu gehen, was dem Film tatsächlich eine Art Happy End beschert. (Text-Stand: 30.12.2016)
Foto: NDR / Christine Schroeder