Polizeiruf 110 – Abwärts

Michelsen, Groth, Jordan, Nils Willbrandt. Eiszeit in der Keimzelle der Gesellschaft

Foto: MDR / Oliver Feist
Foto Rainer Tittelbach

Der „Polizeiruf 110 – Abwärts“ von Nils Willbrandt, der in der Ost-Tradition der Krimireihe steht, thematisiert das Unverständnis zwischen den Generationen, den Kleinkrieg in den Familien. Orientierungslose Kids, die sich elternlos fühlen, irren durch den ostdeutschen Winter und sie treffen auf nicht weniger verunsicherte Erwachsene. Claudia Michelsen bleibt die Kommissarin auf Schimanskis Spuren; den Thanner-Gegenpart spielt Sylvester Groth nicht weniger überzeugend. Dafür gerät der Fall zu kleinteilig, die Dramaturgie dadurch zu kurzatmig, die Handlung ist wenig packend und der Inszenierung fehlt das Konzept.

Winter in Magdeburg. Die Körper sind dennoch erhitzt, die Nerven liegen blank. Vor allem bei Sozialarbeiter Peter Ruhler. Einer seiner ehemaligen Sprösslinge ist in einem Anfall größter Wut in einer Straßenbahn zusammengeschlagen und getötet worden, nachdem er seinerseits einen 15-Jährigen brutal bedroht hatte. Kommissar Drexler will Ruhler zu den Ermittlungen hinzuziehen, doch nachdem sich herausstellt, dass auch er Fahrgast in der unseligen Straßenbahn war, taucht er unter. Für Kommissarin Brasch ein Argument dafür, dass Ruhler „zugeschlagen“ hat. Drexler indes glaubt, dass der Streetworker, mit dem er schon mehrfach zusammengearbeitet hat, einen jugendlichen Täter deckt. Der 15-Jährige ist Lukas Schenker. Ein bisher nicht straffällig gewordener Junge, der seit frühester Kindheit bei seinem Vater lebt. Seine ältere Schwester dagegen ist auf die schiefe Bahn geraten. Hat sie ihn vielleicht in etwas hineingezogen? Keiner weiß, wo er steckt. Die Kommissarin macht sich Sorgen.

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Weshalb läuft der Kosovo-erfahrene Streetworker Peter R. (Peter Jordan) Amok? Lukas Schust

Ein Junge schlägt einen Erwachsenen und dieser drischt zurück. Eine Tochter kreischt, schreit und wütet, während der Vater sie mit Nichtbeachtung straft. Eine Mutter sucht die Nähe zum straffälligen Sohn, doch der verweigert sich einem Gespräch. Der „Polizeiruf 110 – Abwärts“ von Nils Willbrandt thematisiert das Unverständnis zwischen den Generationen, den Kleinkrieg in den Familien. Eiszeit herrscht (nicht nur) in der Keimzelle der Gesellschaft. Orientierungslose Kids, die sich elternlos fühlen, irren durch den ostdeutschen Winter und sie treffen auf nicht weniger verunsicherte Erwachsene, die nicht wissen, was sie tun sollen. Nicht verschont  von solchen Problemen bleiben die Kommissare. Doreen Braschs rechtsradikaler Sohn sitzt im Knast; Jochen Drexlers Tochter hat einen gewalttätigen Freund. Raue Zeiten in Sachsen-Anhalt. In einem solchen Klima muss die Kommissarin eine härtere Gangart einschlagen. Da kann es schon mal passieren, dass sie einem am Schicksal seiner Kinder desinteressierten Vater die Tür ins Gesicht knallt, um sich Gehör zu verschaffen.

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Großartiger Schauspieler, gewöhnungsbedürftige Rolle: Sylvester Groth gibt den Thanner; schließlich muss ja Brasch auf Schimanski machen (was etwas gewollt wirkt).

Claudia Michelsen bleibt die Kommissarin auf Schimanskis Spuren – mal eine ganz andere Rolle für die zweifache Grimme-Preisträgerin. Üben durfte die Schauspielerin bereits vor über einem Jahrzehnt in diversen TV-Movies (besonders tough & mit Knarre agierte sie in „Entscheidung im Eis – Eine Frau jagt einen Mörder“, aber auch in Breloers „Todesspiel“ zeigte sie reichlich Physis). Den ängstlichen Gegenpart spielt Sylvester Groth nicht weniger überzeugend: Drexler ist der zwanghafte Aktenwurm, der sich in freier Wildbahn bewähren muss. Das Duo ist auch bei seinem zweiten Einsatz der große Pluspunkt des „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg (die Besetzung insgesamt ist stark – große Klasse: Peter Jordan). Jeder Szene drücken sie ihren Stempel auf, jeder Tonlage ringen sie eine ganz besondere Nuance ab, selbst alberne Drehbuchgags wie das allzu ausgestellte Aneinandervorbeireden oder die winterlichen Probleme mit dem fahrbaren Untersatz sind erträglich in dieser Konstellation. Allein die „Beziehung“ zwischen den beiden läuft noch nicht rund – das aber passt nicht schlecht zu einem solchen Entfremdungskrimi der offen und wild ausgetragenen Psycho-Duelle.

Polizeiruf 110 – AbwärtsFoto: MDR / Oliver Feist
Noch laufen die beiden Ermittler – wie es das Krimi-Ritual will – neben- bzw. hintereinander her: Doreen Brasch (Claudia Michelsen) und Jochen Drexler (Sylvester Groth).

„Abwärts“ steht dramaturgisch unverkennbar in der Ost-Tradition der Krimireihe. Spannung ist nicht das oberste Ziel; der Hintergrund der Tat steht im Mittelpunkt. Auch nur bedingt setzt Willbrandt auf das Wer-war-der-Täter-Prinzip: Obwohl reichlich Personal durch den Film geschleust wird, gibt es nur wenige wirklich Verdächtige. „Abwärts“ besitzt einige actionhaltige Situationen (Michelsens Brasch muss immer wieder Räume sichern); gerät anfangs allerdings reichlich dialoglastig. Stark indes sind die Inszenierungen der Tathergangsthesen; diese filmischen Rückblenden als Möglichkeitsform brechen die Wortlastigkeit klug auf. Clever auch die Informationspolitik, die das Drehbuch betreibt: Parallel zu den Ermittlungen entwickelt sich ein zweiter Erzählstrang um den aus dem Tritt geratenen Sozialarbeiter. Allerdings enthält dieser Strang viele Unbekannte und weil genregemäß nicht viel über die sozialen und psychologischen Motive der Episoden-Figuren verraten werden darf, bleiben einem diese Figuren weitgehend fremd: Sie sind bis zum Beginn des Schlussdrittels Fragezeichen auf zwei Beinen, mit denen man trotz durchaus bedrohlicher Situationen kaum „mitfühlt“. Auch die Handlung insgesamt packt einen wenig. Das Spiel aus Nähe und Distanz, aus verkopftem Diskurs, Motion & Emotion funktioniert nur gegen Ende.

In der ersten Stunde des Films entwickelt Autor-Regisseur Willbrandt ein viel zu kleinteiliges, am Buchstaben der Realität orientiertes Szenario mit unzähligen Konflikten und Familienkonstellationen, Problemlagen und Projektionen. Dem Skript fehlt eine klare Handschrift, der Inszenierung ein (atmosphärisches, visuelles, rhythmisches) Konzept. Mit simplen Parallelmontagen lässt sich nur schwerlich ein spannungsreicher Erzählfluss erzielen. Und was die Auslotung des Themas „unversöhnliche Familienkonflikte“ angeht, bleibt dieser „Polizeiruf“ in den Zwängen des Genres stecken. Wir sind gespannt auf den dritten Fall.

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Sylvester Groth, Peter Jordan, Lukas Schust, Christoph Grunert, Steve Windolf, Felix Vörtler, Kai Malina, Ursula Strauss, Sina Tkotsch, Vincent Redetzki, Cornelia Gröschel, Floriane Daniel

Kamera: Michael Schreitel

Szenenbild: Matthias Klemme

Schnitt: Vessela Martschewski

Produktionsfirma: Saxonia Media

Drehbuch: Nils Willbrandt

Regie: Nils Willbrandt

Quote: 5,99 Mio. Zuschauer (20% MA)

EA: 06.07.2014 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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