„Das Leben geht weiter.“ Eine tröstlich gemeinte, aber schwer erträgliche Floskel ist das, wenn man gerade einen großen Verlust erlitten hat. Oder erleiden wird. Oder weiß, dass dieser Satz für alle gilt, nur nicht für einen selbst. Im Film „Ohne Dich“ spricht diesen Satz eine Krankenschwester nach einem anstrengenden Arbeitstag aus, offenbar ohne zu wissen, dass dies für Hebamme Rosa (Katja Riemann) ein makabrer Ausspruch ist. Rosa wiederholt ihn, ihre spöttische Bestätigung klingt jedoch bitter, denn sie selbst wird bald sterben. „Es ist mein Krebs!“, brüllt sie wütend ihrem Mann Marcel (Charly Hübner) entgegen, der sie zu einer weiteren Behandlung überreden will: „Du musst kämpfen!“ Aber das Unvermeidliche wird sich nicht aufhalten lassen, auch wir Zuschauer ahnen das seit der ersten Szene. Da sitzt Marcel alleine in einem Café, eine Frau in einem gelben Rock geht vorüber, und Marcel springt auf, rennt ihr hinterher. Schließlich glaubt er in einiger Entfernung Rosa zu erkennen. Sie trägt den gelben Rock, steht ganz still, ihm zugewandt – ein Traumbild.
Foto: SWR / ophir Film / Roloff
Existenzielle Fragen sind Thema in diesem episodenhaft angelegten Film, in dem die Geschichten verschiedener Personen erzählt und nach und nach miteinander verknüpft werden. Manches geschieht überraschend, manches ist durchaus vorhersehbar: So trifft die junge Motte (Helen Woigk), die gleich zu Beginn des Films schwanger wird, natürlich irgendwann auf Hebamme Rosa. Die eigenwillige, wortkarge, gerne auch mal patzige Motte ist eine Art Gegenentwurf zur lebensfrohen, impulsiven Rosa. Motte lebt in einem Eisenbahn-Waggon, arbeitet als Kellnerin und verhält sich auch gegenüber ihrem Freund ziemlich unnahbar. Sie wohnt in einem engen, kalten Zuhause; im hellen, weiträumigen Haus von Rosa und Marcel blickt die Kamera dagegen immer wieder durch die großen Glasfenster auf die Stadt herab. Und wie unterschiedlich beide Frauen lieben, wie unterschiedlich sie tanzen – Autor und Regisseur Alexandre Powelz und Kamerafrau Eeva Fleig zeichnen die Charaktere nicht nur in Dialogen, sondern auch in aussagekräftigen Bildern. „Ich brauche niemand“, sagt Motte mürrisch zu Rosa. Das Kind will sie nach der Geburt zur Adoption freigeben. Ums Kinderkriegen geht es nebenbei auch. Einer eindeutigen Botschaft enthält sich der Film. Zwar sagt Rosa einmal zu Marcel, es sei schade, dass sie keine Kinder bekommen hätten, aber beide waren offenbar auch ohne Kinder glücklich. Mutter-Glück, Mutter-Unglück: alles ist möglich.
Die Geschichten von Rosa und Motte, deren Rollen mit Katja Riemann und Helen Woigk bestens besetzt sind, stehen im Zentrum des Films, obwohl beide Figuren kaum gemeinsame Szenen haben. Dafür sind sie hier etwas schicksalsschwer miteinander verbunden: In Mottes Bauch entsteht neues Leben, während Rosas Leben zu Ende geht. Und Motte ist die letzte werdende Mutter, um die sich Rosa kümmert. Generell setzen Powelz und seine Co-Autorin Alexandra Umminger auf Dualität, auf eine Paar-weise Erzählstruktur: In den meisten Szenen treffen zwei Personen aufeinander, Rosa & Marcel, Marcel & Putzfrau Layla (Meral Perin), Layla & ihr Ex-Freund Navid (Bijan Zamani), Motte & ihr Freund Neo (Arne Gottschling), Motte & Kollegin Mitra (Sarah Hórvath), Rosa und ihr Vater Hans (Rolf Hoppe). Das ist nicht sehr vielseitig, hat aber den Vorteil, dass die Dialoge insgesamt konzentriert und prägnant sind.
Im Drehbuch sind die Geschichten mal mehr, mal weniger lose miteinander verknüpft. Und in Powelz‘ Inszenierung fließen die Episoden leicht und flüssig ineinander, der Film wirkt wie aus einem Guss, wie das Leben selbst, in dem sich manche Wege kreuzen und dann wieder trennen. Schwermütiges Pathos kommt hier dank des jederzeit glaubwürdigen Spiels der Darsteller und der sensiblen Kamera von Eeva Fleig nicht auf. Denn manches könnte angesichts der großen Gefühle leicht kitschig werden. Wenn Rosa und Marcel aufs Land reisen und ausgelassen durch die Felder tollen, dann baden die Bilder geradezu im warmen Sommerlicht. Doch das Sterben und der Tod werden hier nicht süßlich verkleistert, beide genießen eben für einige unbeschwerte Momente das letzte Glück zu zweit – ebenso intensiv und schmerzhaft-schön, wie sie in diesem Film Abschied nehmen von ihrer Liebe.
Foto: SWR / ophir Film / Roloff
Überzeugend auch, wie in einer einzigen Szene von Rosas Verhältnis zu ihrem 82-jährigen Vater erzählt wird. Rosa will ihm endlich sagen, dass sie sterben wird. Doch der Vater sitzt im Rollstuhl und klagt, dass ihm „sterbenslangweilig“ sei. „Ich wache manchmal morgens auf und denke: Ich bin schon tot. Es ist ein wunderbares Gefühl.“ Rolf Hoppe spielt das auf seine unvergleichliche Art beinahe fröhlich, jedenfalls ganz ohne Selbstmitleid. Rosa verzichtet auf ihre Hiobsbotschaft und sagt nur: „Ich liebe dich, Papa.“ Er entgegnet: „Ich weiß.“ Später dann, nach Rosas Tod, ziehen Marcel, der Vater und dessen Pflegerin unter dem Sternen-Himmel einen Joint durch. In diesem Film fügt sich eins zum anderen, der Schmerz, das Glück, die Liebe, der Tod, die Trauer, neues Leben und neue Hoffnung. Existenzielle Fragen, große Gefühle, mit einer Leichtigkeit inszeniert und erzählt, wie man es selten sieht.
Etwas weniger überzeugend gelingt die Geschichte von Layla, der Putzfrau von Rosa und Marcel, die ihren Ex-Freund immer wieder anruft, weil sie die Trennung nicht verkraftet, nicht akzeptieren will. Der Verlust der großen Liebe wird zum gemeinsamen Thema mit Marcel, der als Psychotherapeut anderen helfen soll, nun aber angesichts von Rosas Krankheit mit seinen eigenen Verlustängsten konfrontiert wird. „13 Jahre. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie ist“, sagt er zu Layla. „Es ist, als würde Ihnen jemand ständig die Kehle zudrücken“, antwortet sie. In Laylas Episode wird sogar das Staubwischen mit Bedeutung aufgeladen. Sie interessiere sich für die Spuren, die andere hinterlassen, sagt Layla zu Marcel. „Ich beseitige sie. Ich übersehe nichts. Und wenn ich fertig bin, ist es so, als wäre nie etwas da gewesen.“ „Und dann geht alles wieder von vorne los“, antwortet Marcel trocken. Layla kann nicht locker lassen, immer wieder bedrängt sie ihren Ex. Alles läuft auf eine Tragödie zu, doch weil das Leben weitergehen (und der Film nicht hoffnungslos enden) soll, scheut Powelz diese Konsequenz mit Hilfe einer etwas zufälligen Wendung dann doch.