Ein halbtoter Dorftyrann, drei verstörte Kinder & ein Senior auf Rachefeldzug
„Ein Verlust für Schwanitz wäre es ja nicht“, meint der ortsansässige Bestatter. Ein Mensch, der den Hund von Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) abknallen wollte, kann tatsächlich kein guter Mensch sein. Jetzt hat es ihn, den Hof- und Dorf-Tyrannen Benedikt, selbst erwischt. Doch noch lebt er – und um den Täter bei einem möglichen zweiten Angriff zu überführen, engagiert Polizistin Lona Vogt (Henny Reents) Mehmet Ösker (Cem-Ali Gültekin) als Koma-Patienten-Double. Derweil herrscht im Haus der Benedikt-Kinder, der 14jährigen Ruth (Lilly von Klitzing), der Beinahe-Volljährigen Sara (Pauline Rénevier) und dem 21jährigen Lukas (Dennis Mojen), der die Vormundschaft für seine Schwestern übernommen hat, eine merkwürdige Grabesstille. Während Vogt und ihr „Berater“ Jacobs in diesem Fall nur abwarten können, verlangt eine private Situation rasches Handeln: Der Vater der Polizistin, Reimar Vogt (Peter Prager), ehemals BND-Geheimagent, befindet sich auf einem Rachefeldzug gegen die Menschen, die für den Tod seiner Frau verantwortlich sind. Dabei hat er selbst etwas abbekommen. Er konnte sich gerade noch nach Schwanitz retten, wo er vom Tierdoktor verarztet wird; doch das LKA steht schon vor der Tür. Was wird sich Lona verhalten? Sie ist eine gewissenhafte Polizistin, sie will aber auch eine gute Tochter sein.
„Hauke Jacobs, Lona Vogt und Jule Christiansen beobachten und lassen die Lösung des Falles eher zu, als dass sie aktiv ermitteln. Die Geschichte funktioniert eher wie ein Domino-Effekt in Slow-Motion. Hauke greift nur einmal in die Figurenkonstellation ein, tippt einen Dominostein um, der dann ganz langsam fällt und den nächsten in Bewegung setzt. Dementsprechend durfte es kein temporeicher, getriebener Film werden.“ (Felix Herzogenrath, Regisseur)
Foto: Degeto / Gordon Timpen
Mikrostruktur der Spannung: Wie Krimi, Komödie & Drama zusammenfinden
Auch die sechste „Nord-bei-Nordwest“-Episode besitzt einen eigenen, ganz besonderen Charme. „Waidmannsheil“ setzt nur ein bisschen auf klassische Ermittlungsarbeit, dafür umso mehr auf stimmiges dörfliches und norddeutsches Ambiente. Auch wenn die Vater-Tochter-Geschichte sich zwischenzeitlich in den Vordergrund schiebt und sich dieses Motiv auch noch im Handlungsstrang um Familie Benedikt unaufdringlich spiegelt, kommt die Spannung nicht zu kurz. Es ist aber nicht die final gesteuerte, womöglich noch mit Verfolgungsjagden und Action-Szenen angereicherte Spannung, sondern es sind die genüsslich ausgereizten Situationen, in denen Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt damit spielt, dass es dem liebgewonnenen Personal der Reihe „an den Kragen gehen“ könnte. So gibt es beispielsweise eine Szene auf dem Polizeirevier – Hauke, Lona, zwei LKA-Polizisten und nebenan in der Teeküche der schwer verletzte Racheengel Vogt. Die Lust an dieser Szene entsteht aus der einfallsreichen Art und Weise, mit der die Gefahr, entdeckt zu werden, vergrößert wird, und mit der sich das Ganze zum Guten wendet. Eine geradezu komische Variation des klassischen Hitchcock-Suspense ist eine Szene, in der der Hamburger Polizist Lona beim Verlassen von Jacobs Schiff auflauert. An Bord versteckt sich Papa Vogt. Durch den Satz „Wenn Sie einen nackten Tierarzt sehen wollen, dann gehen Sie ruhig weiter“ lässt sich der Schnüffler nicht aufhalten (und Reimar Vogt wird immer nervöser), doch beim Betreten des Bootstegs bellt ihm plötzlich Holly entgegen. Bevor den der Polizist mit Hundekuchen bestechen kann, wird eine auf Krimispannung inszenierte Sequenz eingeschoben. Der falsche Benedikt bekommt unheimlichen Besuch im Krankenhaus – von einer Person mit knackigen Debreczinern. Die würden Holly gewiss auch munden… Die fast unmerkliche Verwebung von (Erzähler-)Ironie und Spannung, von Komödien- und Krimi-Momenten zeichnet „Waidmannsheil“ besonders aus. Semantisch korrespondierende Parallelmontagen treiben die Geschichte leicht ironisch & flüssig voran. So wird eine Szene mit dem angeschossenen Vogt unterbrochen von der Verarztung eines Hundes in der Tierarztpraxis: „Das Gefährliche bei einer Verletzung ist hoher Blutverlust“, weiß Jule und „Es gibt keinen gefährlicheren Gegner als ein verletztes Tier“, ergänzt Hauke Jacobs und charakterisiert damit indirekt den Seelenzustand von Lonas Vater.
Magie des Dreiecks: die Lust der Möglichkeit, die Ironisierung der Sehnsucht
Mit genau diesem Händchen für Dramaturgie und augenzwinkernde Details widmet sich Schmidt in der neuen Geschichte auch der latent amourös unterfütterten Dreiecksgeschichte. „Es gibt Menschen, ohne den dieser Planet ein besserer wäre.“ Diesen Satz darf nicht Hinnerk Schönemann sagen, sondern Henny Reents, wofür ihre Polizistin auch sofort einen anerkennenden Gesichtsausdruck vom menschenscheuen Tierarzt erntet. Und die hübsch in den Plot eingearbeitete Romeo-und-Julia-Lovestory kommentiert Lona Vogt mit einem Lächeln: „Manchmal finden sich die seltsamsten Paare, Herr Jacobs.“ Sagt’s und steht (nach einem Schnitt) deutlich zu nah an dem Helden, dafür dass er sie nur bei ihrem neuen Fall unterstützen soll. Dass er ihr letztlich dabei hilft, den bisher wichtigsten Mann in ihrem Leben, ihren Vater, zu verabschieden, lässt sich als ein Hinweis darauf lesen, dass künftig mehr zwischen den beiden sein könnte. Nachdem der Ex-Polizist die Liebe seines Lebens – jene titelgebende Sandy aus Episode 5 – endgültig verloren hat und er, auch was die Krimi-Backstory angeht, ab Episode 7 ein „freier“ Mann ist, könnten sich nun beide offenen Herzens in eine neue Beziehung begeben. Könnten. Das ist das Schöne an diesem Dreieck. Es steckt voller Möglichkeiten – auch für den Zuschauer. Und da Aufschub und Ironisierung von Sehnsucht ein größeres Vergnügen ist als vollzogenes Glück wird Schmidt – auch im eigenen Interesse – seine Figuren und die „NbN“-Fans weiter zappeln lassen. Ein Beinahe-Kuss am Bootssteg ist das Höchste der Gefühle. Denn in der „Praxis“ hat Jule mal wieder einen Notfall. In Wahrheit steht sie in Blickweite – und ist sauer: Sie hatte sich mehr versprochen, nachdem sie und Hauke der 14jährigen Ruth zuliebe zuletzt ein bisschen auf Familie gemacht haben.
Foto: Degeto / Gordon Timpen
„Ich habe ein Figurendreieck gewählt, weil es per se instabil ist und wechselnde Koalitionen zulässt. Dadurch sind die Verhältnisse untereinander immer in Bewegung. Wenn man sich die Filmgeschichte anschaut, sind die Geschichten immer dann zu Ende, wenn das Paar vor dem Traualtar steht. Und das hat seinen guten Grund, und den umschiffe ich permanent.“ (Holger Karsten Schmidt)
Die Frage nach Genre & Logik erübrigt sich: einfach eine gute Geschichte
Bei so viel Feinarbeit bei den amourösen Details funktionieren die Krimi-Momente wie von selbst. Eine Trennung in Krimi-, Drama-, Beziehungs- und Komödien-Bausteine, die Zuschauer, aber auch Kritiker gern vornehmen, verbietet sich bei „Nord bei Nordwest“, ja eine solche Trennung ist kaum möglich, viel zu feinmaschig und viel zu stimmig sind die Genreelemente miteinander verwoben. Und auch Regisseur Felix Herzogenrath („Letzte Spur Berlin“), der noch keinen Premium-90-Minüter in seiner Vita aufzuweisen hat, besitzt ein gutes Gespür für die Subtexte des Trios, für die relaxte Tonlage der Geschichte, für die Neben- und selbst noch für die Randfiguren (beispielsweise das schwarzhumorige Bestatter-Pärchen); und der Wechsel zwischen stimmungsvollen Landschaftstotalen und dezenten Anflügen von Drama mit gelegentlichen Großaufnahmen geben dem Film einen guten Fluss, lassen ihn scheinbar wie von selbst dahin gleiten. Auch dadurch sowie durch das einnehmende Spiel von Schönemann, Reents & Lohse erübrigt sich die Frage, ob Krimi, ob Drama, ob Komödie, aber auch Fragen nach Psychologie & Glaubwürdigkeit laufen ins Leere. So ist und war das schon immer bei gut erzählten Geschichten. (Text-Stand: 12.12.2017)