Dem Psychiater Dr. Johannes Jessen entgleitet sein Leben. Scheinbar durch Zufall stößt der in einer Frauenmordsache ermittelnde Kommissar Ruiz auf den in Hamburg praktizierenden „Seelenversteher“. Merkwürdig, dass die Leiche ausgerechnet in Sichtnähe zum Grab von Jessens Mutter gefunden wurde. Außerdem stellt sich heraus, dass er die Tote kannte und sie vor Jahren seine Patientin war. „Ich hab’ mir wieder weh getan, Herr Jessen“ – steigt die Erinnerung an diese junge Krankenschwester in ihm auf. Und so kann er dem Kommissar nützliche Hinweise geben: „Sie suchen nach einem erfahrenen Sadisten. Ein Mann, der einsam ist, sozial unangepasst und sexuell unreif.“ Dass Jessen einen Patienten hat, der Schreckens-Bilder beschreibt, die dem realen Mordszenario frappierend ähnlich sind, verschweigt er. Als er sich eines Besseren besinnt, ist es zu spät. Der Psychiater steckt bereits mittendrin im Strudel der Ereignisse. Ein zweiter Mord passiert. Wieder ist es eine ehemalige Patientin. Und ihr Blut klebt an seinen Händen. Dann ein Klick und die Handschellen schnappen zu.
„Jessen ist zerbrechlich, widersprüchlich, auch gesundheitlich schwer angeschlagen. Ein Held, der schwach sein darf, der viele Fehler macht und dennoch seine Würde nicht verliert.“ (Ulrich Noethen)
Ruiz ist ein vom Leben und seiner Arbeit desillusionierter Vollblutpolizist der alten analogen Sorte – ein Sturkopf mit feinen Instinkten und einem ausgeprägten Autoritätskonflikt.“ (Juergen Maurer)
Die Hauptfigur der ZDF-Krimi-Reihe „Neben der Spur“ ist von Haus aus alles andere als der geborene Antiheld, aber das Leben und das Genre machen ihn schließlich doch zu einer deutlich gebrochenen Figur. Ein vermeintlich glücklicher Familienvater, ein Sympathieträger, der ein Verhältnis mit einer Ex-Prostituierten hat und der gerade erst die Diagnose Parkinson gestellt bekam – ein solches Rollenprofil für eine Krimi-Reihe ist für ZDF-Verhältnisse eher ungewöhnlich. Zwar tragen auch andere Ermittler im Zweiten – wie Helen Dorn oder Kommissarin Heller – ihr Psycho-Päckchen, doch für mehr als ambitioniertes, „schlafendes“ Beiwerk, das in den einzelnen Episoden mal mehr mal weniger gehoben wird, waren deren Viten bisher nicht gut. Zum Reihen-Start gleich mit einem existentiellen Zweikampf zu beginnen – das übertrifft sogar die Psychos vom „Tatort“ Dortmund und geht in diesem Einzelfall auch weiter als die persönliche Involviertheit des Rostocker „Polizeiruf“-Duos in „Liebeswahn“ und „Familiensache“. Entscheidend für die Dramaturgie war natürlich die Vorlage von Michael Robotham: Ein Psychothriller-Roman hat gemeinhin andere Möglichkeiten, die „Helden“ emotional im Fall zu verorten, als ein Ermittlerkrimi. Dass zudem mit Ulrich Noethen ein Schauspieler zur Verfügung stand, der überragend ist, wenn seine Rollenbilder zwischen Recht und Unrecht („Das unsichtbare Mädchen“), zwischen Biedermann und Psycho („Das wahre Leben“) changieren, macht dieses Reihenprojekt des ZDF auch nachhaltig aufregend. Aber auch Juergen Maurer, ein Meister undurchsichtiger Rollen, entwickelt als zynischer Kommissar Ruiz aus der Ruhe eine dunkle, diabolische Kraft.
Spannung zu erzeugen ist gemeinhin der vorrangige Sinn eines Thrillers – und so legt auch „Adrenalin“ früh die Aufmerksamkeit auf Bilder, Sätze und Situationen, die im Verlauf der Handlung noch gewaltig an Bedeutung gewinnen sollen. So wird beispielsweise sehr früh die Medienpräsenz Jessens thematisiert und damit auch die Ängste, die diese „Berühmtheit“ bei der Gattin auslöst. Tatsächlich werden auch später Frau und Kind in den Fall auf dramatische Weise hineingezogen: Nach 36 Minuten taucht ein Schatten vor dem Bungalow der Familie auf, nach 48 Minuten sieht man das Gesicht des Peinigers. Auch die verhängnisvolle Nacht nach der Diagnose, in der der Psychiater fremdgeht (mit einer Ex-Prostituierten, die später ermordet wird) und damit erste eigene Spuren im Fall legt, wird frühzeitig angedeutet. Aber auch Sätze des mysteriösen Patienten wie „Sie sollten Ihre Arbeit gründlicher machen, sonst könnte das schlimme Folgen haben“ oder dessen zunächst unerklärlichen Ausraster („Sie wissen gar nichts über meinen Vater“) sind wirkungsvolle Vorausdeutungen in einer überaus dichten Spannungsdramaturgie. Im Schlussdrittel bleibt dem von der Polizei gejagten und von einem heimtückischen Psychopathen verfolgten Helden dann nichts anderes übrig, als selbst die Klärung seiner Unschuld in die Hand zu nehmen. Doch ohne Waffe und kriminalistische Erfahrung hat er ähnlich schlechte Karten wie die unbescholtenen Durchschnittsmänner, die Hitchcock einst in seinen Thrillern von sichtbaren und unsichtbaren Mächten verfolgen ließ.
Arbeitsweise & Ästhetik von Cyrill Boss & Philipp Stennert:
„Wir arbeiten in der Regel mit zwei Kameras. Einer von uns sitzt hinter der zweiten Kamera, während der Andere den objektiven Blick auf die Szene behält.“„Uns war es wichtig, eine eigene Welt zu erschaffen. Unsere Entscheidungen zu Motiven, Einstellungsgrößen, Brennweiten oder Licht versuchen wir, immer in den Dienst der geschichte zu stellen. Die Visualität sollte ähnlich funktionieren wie die Musik: Man muss als Zuschauer von einem Gesamtgefühl erfasst werden und darf nicht über einzelne Aspekte nachdenken.“
Der Adrenalin-Schub, den die Auftakt-Episode von „Neben der Spur“ dem Zuschauer verabreicht, resultiert nicht nur aus dem sehr klassischen Hochspannungsplot, der veredelt wird durch die dichte Funktionspsychologie und zwei überragende Hauptdarsteller, dieser Adrenalin-Schub resultiert in nicht zu unterschätzendem Maße auch aus der hoch suggestiven filmästhetischen Erzählweise, mit der die Kino-Regisseure Cyrill Boss und Philipp Stennert diesem Montagsthriller einen unverkennbaren Look geben. Schon das Intro gibt ein Versprechen in Sachen Atmosphäre und legt erste Spuren in die Handlung: das Wasser, der Hafen (wo es zum Showdown kommen wird), die Stadt, die Familie, ein Park, eine Hand, das Haus der Jessens… Hamburg ist in ein ungemütliches Licht getaucht, stahlgraues Design dominiert, Vögel kreischen im Hafen, Hell-Dunkel-Kontraste beleben die Bildebene. Ob Jessens Haus oder seine Praxis, ob die Schaltzentrale von Kommissar Ruiz oder das Refugium des rachedürstigen Killers, das zur sinnbildlichen Höhle einer kranken Seele wird: Kamera und Szenenbild erschaffen eine eigene Welt. „Es ist kein dokumentarischer Blick, aber auch keine überhöhte Kunstwelt“, so die beiden Autor-Regisseure. Bild- und Tonspur führen ein ähnlich gemeinsames Ballett auf wie der arrogante Kaffeefleckleser Jessen und der ungehobelte Allesverächtlichmacher Ruiz bei ihrem ersten längeren Aufeinandertreffen: wie zwei Tiere, die um ihr Revier kämpfen, umschleichen sie sich und machen gegenseitig abschätzige Bemerkungen. Die instinktive Abneigung, die diese Männer gegeneinander hegen, bricht nur am Ende erwartungsgemäß ein klein wenig auf. Den Beginn einer wunderbaren (Wohlfühl-) Freundschaft braucht man bei ihnen aber nicht zu befürchten. (Text-Stand: 28.1.2015)