Die Zeiten stehen auf Veränderung bei drei Großstadtmenschen um die 40. Da ist Judith, allein erziehend, einst Stewardess – jetzt muss sie sich mit Heimarbeit und Telefonmarketing durchschlagen. Geblieben ist der Traum vom Fliegen. Das Fliegen hat es auch Ulrike angetan, dem Flug des Schmetterlings, der durch zwei Stadien geht, bevor er den höchsten Grat an Freiheit erreicht, eifert sie in ihren Phantasien nach. Ihren sicheren Job auf dem Sozialamt hat sie gekündigt – und macht nun eine Kosmetik- und Massageausbildung. Sich neu erfinden ist für Jochen überlebensnotwendig. Seinen Traumberuf Grafikdesigner hat er nie ausgeübt, dafür reichlich Gelegenheitsjobs. Er haust in einem vom Sozialamt zugewiesenen Zimmer. Es ist vor allem der Wunsch nach einer eigenen Wohnung, der ihn handeln lässt. Weshalb es nicht mal mit dem (verhassten) Beruf des Vaters versuchen: Versicherungsvertreter. Was tut man nicht, um dazuzugehören, beachtet zu werden, um aus der Warteschleife auszubrechen!
„Morgen das Leben“ sagen sich die drei Protagonisten in Alexander Riedels gleichnamigem Dokudrama. Im Moment gilt die Devise: „Hauptsache Bewegung, Veränderung.“ Man mag die kleinen Erfolge sehen, die Tippelschritte auf der Karriereleiter. Man sieht aber auch die zunehmende Bereitschaft zur Selbstaufgabe. Jochen wird in seiner stillen Verzweiflung seinem Ausbilder immer ähnlicher. Die Frauen dagegen passen ihr mitunter neurotisches Verhalten zumindest noch ein Stück weit ihren Träumen an. Regisseur Riedel bezeichnet „Morgen das Leben“ als einen „dokumentarischen Spielfilm“. Die Neuorientierung seiner fiktiven Figuren kombiniert der bislang nur als Dokumentarist tätige Filmemacher mit Situationen aus dem richtigen Leben – sprich: Judith Al Bakri, Ulrike Arnold und Jochen Strodthoff spielen in einem realen Umfeld, beispielsweise in einem echten Massagekurs oder mit einem tatsächlichen Versicherungsvertreter als Ausbilder. Dadurch entstehen nicht nur seltsame Brechungen und kleine Irritationen, dadurch ergibt sich auch ein dokumentarischer Blick, der die letztendliche Bewertung des Gezeigten dem Zuschauer überlässt. Was sich allerdings durch den gesamten Film zieht, ist neben der kleinen Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte, eine leise, liebevolle Ironie, die nicht auf Kosten der Protagonisten geht, sondern die allenfalls die aufschneiderischen Methoden auf dem Arbeitsmarkt oder die absurde Oberfläche des (Da-)Seins belächelt. Und dann ist da München. Die Stadt in Deutschland, in der man ohne Geld und das richtige Image gar nichts ist, gezeigt als eine überlegt kadrierte und doch realistisch anmutende, moderne Eisen-Glas-Beton-Stadt ohne Herz. (Text-Stand: 28.4.2012)