Provokationen ignorieren, Ruhe bewahren, sich nicht auf Platzhirschduelle einlassen, auf keinen Fall aggressiv werden: Marie Brand ist der Pazifismus in Person. Die Kölner Kommissarin, grundsätzlich ohne Dienstwaffe unterwegs, traut sich sogar, ganz allein einer vor Testosteron nur so strotzenden Horde junger Männer gegenüberzutreten. Drehbuchautor Stefan Rogall nutzt diese Haltung als Basis für einen Krimi, der über weite Strecken jedoch zu einem Lehrstück über Gewalt gerät. Der Film beginnt mit einer doppelten Einführung: Im Präsidium hält Brand (Mariele Millowitsch) im Rahmen einer internen Fortbildung einen Vortrag über Deeskalationsstrategien. Zur gleichen Zeit gehen zwei Streifenpolizisten im nächtlichen Park einer Ruhestörung nach und stehen unversehens einer Gruppe gewaltbereiter Jugendlicher gegenüber. Die feindselige Atmosphäre entlädt sich schließlich in einem Schuss, der einen der beiden Beamten tödlich verletzt. Als Brand und Simmel (Hinnerk Schönemann) versuchen, die Ereignisse zu rekonstruieren, geraten sie mitten hinein in ein Familiendrama, in dem ein selbstherrlicher pensionierter Richter (Gerhard Roiß) unheilvoll die Fäden zieht.
„Marie Brand und der Reiz der Gewalt“ ist nach dem „Tatort – Hydra“ über die Dortmunder Nazi-Szene, erst der zweite Reihenkrimi von Nicole Weegmann. Die Regisseurin hat 2009 für „Ihr könnt euch niemals sicher sein“, ein Drama über einen vermeintlichen Amokläufer, den Grimme-Preis bekommen. „Mobbing“ (2013), ebenfalls mehrfach ausgezeichnet, befasste sich sehr eindrücklich mit den Folgen von Psychoterror am Arbeitsplatz. Ähnlich bedrückend war „Es ist alles in Ordnung“, ein Drama über häusliche Gewalt. Gemessen an diesen Arbeiten ist die 24. „Marie Brand“-Episode deutlich didaktischer. Während die Position der Kommissarin völlig unzweifelhaft ist, kann Simmel, im Vergleich zur brillanten Kollegin ohnehin der Mann für Bauchgefühl und Körperlichkeit, zumindest nachvollziehen, dass Gewaltverzicht auch als Schwäche missverstanden werden könnte. Die Gegenposition zu Brand verkörpert ein uniformierter Beamter, Thomas Lutz (Nikolaus Benda), der bereits während des Vortrags unangenehm auffällt und immer wieder für hartes Durchgreifen plädiert. Die Lektion, die ihm der Film schließlich verpasst, hat äußerst schmerzhafte Folgen für eine Kollegin.
Stefan Rogall, Autor diverser und fast immer sehenswerter „Wilsberg“-Episoden, ist erfahren genug, um zu vermeiden, dass der Krimi zum reinen Themenfilm wird. Die Spannung ist allerdings eher hintergründiger Natur und resultiert in erster Linie aus der Frage, was sich tatsächlich im Park zugetragen hat. Es gibt zwar einige Szenen, in denen Gewalt in der Luft liegt, aber selbst eine der obligaten Verfolgungsjagden, bei denen Simmel stets noch Zeit findet, sein Sakko abzulegen, bleibt im Ansatz stecken. Stattdessen konzentrieren sich Buch und Regie auf die Familie des Streifenpolizisten Krieger (Shenja Lacher), dessen Aussagen über die Ereignisse im Park merkwürdig unkonkret sind, weil alles so schnell gegangen und die Situation alsbald unüberschaubar geworden sei. Tatsächlich stellt sich heraus, dass die Erinnerungslücken vor allem seinen Sohn Dennis (Sebastian Schneider) schützen sollen, denn der war ebenfalls im Park; und ausgerechnet er steht irgendwann mit der Tatwaffe in der Hand vor Brand, was schließlich zum Fehlverhalten des Kollegen Lutz führt.
Rogall hat neben seinen Krimiepisoden verschiedene sehenswerte Komödien geschrieben, unter anderem „Der Stinkstiefel“ (2009) mit „Wilsberg“-Star Leonard Lansink oder „Idiotentest“ (2012) mit Millowitsch. Bei seiner ersten Arbeit für „Marie Brand“, dem ansonsten eher durchschnittlichen Krimi „… und das ewige Wettrennen“, durfte Hinnerk Schönemann einige komödiantische Glanzlichter setzen. Davon kann diesmal keine Rede sein. Weegmann, die zuletzt für den WDR einen Film über die Folgen der Duisburger „Love Parade“-Tragödie gedreht hat („Das Leben danach“, 2017), kann zwar auch Tragikomödie, wie sie mit dem witzigen Kinofilm „Schenk mir dein Herz“ (2011) bewiesen hat, aber diesmal war der Stoff offenbar zu ernst für Kaspereien. Dabei hätten komische Einlagen vielleicht einen willkommenen Ausgleich zum roten Faden gebildet, denn die Dialoge, in denen Brand und Simmel immer wieder das Thema Gewalt aufgreifen, wirken mitunter recht belehrend. In dem Zusammenhang ist Weegmann zudem ein Lapsus unterlaufen: Brand erklärt Simmel, dass sich Meinungen verfestigen können, wenn sich jemand permanent einseitig informiert (Soziologen sprechen von der „Filterblase“), und stellt anschließend fest, Platons Höhlengleichnis sei „immer noch hochaktuell“, aber sie belässt es bei der Bemerkung, obwohl sehr viele Zuschauer ähnlich wie der Kollege keine Ahnung haben dürften, wovon sie spricht.
Merklich unaufdringlicher als Brands dozierender Tonfall sind die Szenen, in denen der Film Simmels Beziehung zu seiner Dienstwaffe andeutet. Immer wieder und oft unbewusst legt er die Hand an die Pistole. Die Bewegung ist keineswegs als Drohgebärde gemeint; mal sieht es so aus, als wolle er sich bloß vergewissern, dass die Pistole noch da ist, mal scheint er sich auf ihr abzustützen. Zum Glück verzichtet Weegmann auf entsprechende Nahaufnahmen, weshalb diese Momente deutlich beiläufiger inszeniert sind als die Auftritte des uniformierten Polizisten Lutz. Die Figur ist holzschnittartig und eines Weegmann-Films nicht würdig. Solche Beamte gibt es sicher auch in der Wirklichkeit, aber der Mann hat innerhalb des Ensembles keine andere Funktion als Simmel mit seinen Parolen zu provozieren. Emotional ähnlich eindimensional, aber aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse dennoch komplexer ist die Rolle des ehemaligen Richters. Der Reiz dieser Figur liegt vor allem in ihrer Undurchschaubarkeit. Hoffmann ist Kriegers Schwiegervater. Eine wahrheitsgemäße Aussage Kriegers hatte zur Folge, dass jugendliche Gewalttäter freigesprochen wurden. Ihr Opfer, das den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen muss, ist der beste Freund von Dennis. Hoffmann hält seinen Schwiegersohn für einen Waschlappen und hat Dennis erfolgreich gegen den Vater aufgehetzt. Der Österreicher Gerhard Roiß verkörpert den arroganten Richter im Ruhestand allerdings ohne irgendwelche Zwischentöne, was schade ist; Antagonisten sind erfahrungsgemäß ungleich wirkungsvoller, wenn sie ein gewisses Charisma ausstrahlen. Weitaus vielschichtiger ist der Umgang des Films mit den Ereignissen zu Beginn, die immer wieder in Form von Rückblenden aufgegriffen werden, wenn die verschiedenen Beteiligten ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Bilder zeigen war die unterschiedlichen Perspektiven, geben aber erst ganz am Schluss preis, was sich wirklich zugetragen hat. Selbst Krieger traut seinem Sohn zu, den Kollegen erschossen zu haben, und so zeigt sich erst zum Finale, warum Rogall dem Polizisten ausgerechnet diesen Namen gegeben hat. (Text-Stand: 12.12.2018)