Auch wenn Machtkämpfe unter Männern im Mittelpunkt stehen: Das dramaturgische Setting von „Luden – Könige der Reeperbahn“ bestimmt eine Frau. Die erfahrene Jutta (Jeanette Hain) hat es satt, von ihrem Zuhälter Beatle (Karsten Antonio Mielke) bezahlt und geschlagen zu werden. Sie nimmt den jungen aufstrebenden Klaus (Aaron Hilmer) an die Hand und macht ihm zum neuen Player auf dem Kiez. Genauso sanft und bestimmend dirigiert uns die Stimme von Jeanette Hain aus dem Off durch das Labyrinth der Clubs und Hinterzimmer, versorgt Unbedarfte mit Hintergrundinfos. Vom ersten Vorspann an vertraut man ihrem Singsang und verliebt sich in den starken Schuss an Traurigkeit in ihrem Timbre. Ganz anders, der Auftritt des in breitem Hamburger Dialekt sprechenden Prahlhans und späteren Gründer der „Nutella Bande“ Klaus Barkowsky. In der Rolle des „schönen Klaus“ schrammt Aaron Hilmer oft knapp an der Witzfigur vorbei. Sein Duktus erinnert an Dittsche, sein Aussehen an den frühen Bill Kaulitz und seine nie enden wollende Naivität steht jeder Charakterentwicklung im Weg. Der Gegensatz von Jutta und Klaus offenbart dabei von Anfang an auch eine dramaturgische Krücke, die allzu willkürlich eingesetzt wird. Je nach Dialektfarbe landen Charaktere in der unteren Schublade der breit ausgewalzten Vokale oder in der Auslage ernstzunehmender Erzähler und Handlungsträger. Warum der eine so und der andere so spricht, bleibt ein Rätsel.
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Mit dem ungleichen Duo reist „Luden – Könige der Reeperbahn“ in das Hamburg der Achtziger zurück. Hinein in einen Mikrokosmos aus versifften Peep-Show-Kabinen, kleiner Bühnen, Box-Clubs, Sex-Kinos und trister Kneipen. Ausstattung, Kamera und Szenenbildnerin Myrna Wolf (Deutscher Filmpreis für Bestes Szenenbild für „Lieber Thomas“, 2022) machen hier alles richtig. Nichts wirkt übertrieben. In dunklen Kaschemmen sieht der Zuschauer gerade so viel, wie er sehen muss. Das Geld, das auf der Straße und in den schäbigen Etablissements eingenommen wird, landet in jenen Jahren zu großen Teilen bei der „GmbH“, dem ersten großen Zuhälterkartell auf der Reeperbahn. Neu-Einsteiger Klaus kämpft gegen die schnauzbärtigen Chefs der „GMBH“ ebenso wie gegen die Zweifel seiner Kompagnons. Mit Bernd (Noah Tinwa) und Andi (Henning Flüsloh) strickt das Drehbuch (Niklas Hoffmann und weitere AutorInnen aus dem Team der Produktionen „Hindafing“ und „Blockbustaz“) ein paar „moderne“ Gender-Themen in die Retro-Reise ein. Bernd spart heimlich auf eine OP, die ihn auch äußerlich zur Frau machen soll, Boxtalent Andi neigt zu Gewaltausbrüchen, mit denen er gegen die Ring-Regeln wie gegen die Gesetze des Milieus verstößt. Mit Bernd und Andi schielt „Luden – Könige der Reeperbahn“ auch auf das junge Publikum. Ob das von „4 Blocks“ zum Kiez zurückfindet, bleibt fraglich. Partymacher Klaus jedenfalls übersieht solche Feinheiten. Er kämpft für das große Geld und will mehr Glanz in der Hütte. Mit dem Geld von Andis Bruder schafft er es, seine erste Etage im „Eros-Center“ zu eröffnen. Sein Hang zum großen Dekor trifft den Nerv der 80er-Disco-Ära und bringt den lang ersehnten Erfolg. Die Party im Studio-54-Stil kann beginnen.
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Soundtrack
Folge 1: Ten Years After („I`d love to change the world“), DAF („Der Mussolini“), Joy Division („Disorder“), Adam and the Ants („Stand and Deliver“)
Folge 2: Fad Gadget („Luxury“), Paradiese („Sizzlin Hot“), Key&Cleary („Video“), Sailor („Girls, Girls, Girls“), Fox („For whatever it`s worth“), Fehlfarben („Es geht voran“)
Folge 3: A Flock of Seagulls („I ran“), Mars Turner („Crazy“), Fad Gadget („Ricky`s Hand“), Ray Davis („I go to sleep“), Dead Kennedy („Too drunk to fuck“), Fehlfarben („Die Polizei“)
Folge 4: Burton Inc. („Why don`t you let me know“), The Brains („Money changes everything“), Kim Wilde („Chequered Love“), Hauula („Kalaheo Disco“), Chron Gen („Reality“), The Cure („A Night like this“)
Folge 5: Fad Gadget („Lady Shave“), Cabaret Voltaire („Just Fascination“), Robert Görl („Playtime“), Blitz („Warrirors“), Deep Purple („Child in Time“), Vince Clarke („Only You“)
Folge 6: HEIM („Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strandbikini“), A certain Ratio („The Runner“), Eyeless in Gaza („Sun bursts in“), Die Flippers („Ich hab´ Heimweh nach Tahiti“), Dr. Hook („The Millionaire“)
Parallel zum Auf und Ab der „Nutella-Bande“, die dem Zuschauer im Verlauf der weiteren Folgen fette Partys und ein paar Sonnenuntergänge aus dem Luden-Exil Gran Canaria beschert, erzählt „Luden – Könige der Reeperbahn“ die Geschichte der jungen Manu (auch Lena Urzendowsky spricht keinen Slang). Auf der Suche nach ihrer Mutter türmt sie aus dem Heim, strandet auf dem Kiez und schafft es, nicht auf dem Straßenstrich, sondern als Sängerin auf der Bühne zu landen. Natürlich ist sie als Vertreterin der nächsten Generation schicksalhaft mit den bereits etablierten Hauptpersonen verbunden. Ihre „Erfolgs“geschichte konterkariert die Gnadenlosigkeit, mit dem der Sog nach unten all jene erfasst, die nur an die nächste Nacht auf dem Kiez glauben. Aber die Nächte werden dunkler. Aids vergiftet das Geschäft mit den Freiern, der Kokainhandel als neue Geschäftsidee ruft die Kripo auf den Plan. Prügeleien werden zu Schießereien und die Milieu-Studie wandelt sich mehr und mehr zum Gangsterduell. Die Parallelgeschichte der jungen Manu, die nach ihren Wurzeln sucht und am Ende selbst entscheidet, wo ihr Platz ist, verhindert dabei das Ausfransen der Erzählung, die insgesamt in ihrer Auf-und-Ab-Dramaturgie allzu zwanghaft einer Chronologie der Ereignisse folgt. Am Ende ist es allein Juttas Tragödie, die den Zuschauer gefangen nimmt.
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Wie sich währenddessen über etwa ein Jahrzehnt der Zeitgeist ändert, spiegelt sich im Wandel der Statussymbole (vom Motorrad zum Lamborghini) und in einem interessanten Soundtrack (Liz Gallacher). Nicht immer verbinden sich die Songs mit einer dynamischen Schnittfolge wie die in Episode fünf zu Deep Purples „Child in Time“ zu einem neuen Ganzen. Trotzdem tragen viele Titel, die eben nicht aus den immer wieder verwendeten Top-Ten der 70er & 80er Jahre stammen, zur authentischen Atmosphäre vieler Szenen und Schauplätze bei. Eine Band wie „Fehlfarben“ gehört da ebenso dazu wie „Die Flippers“. In der Tonspur überraschend vielseitig, setzt die Serie visuell auf trist bis schummerig. Selbst auf den Straßen Hamburgs (der Großteil der Aufnahmen entstand in Nachbauten auf dem Gelände der Bavaria Studios) wird es selten eisig kalt. Es regnet viel, aber immer spiegeln sich ein paar warme Neonfarben im nassen Blocksteinpflaster. Das Frösteln setzt ein, sobald im Abspann jeder Folge Originalfotos vom 80er-Kiez zur optischen Nachlese einladen. Die hellen, kalten Schwarz-Weiss-Bilder fangen Orte und Menschen in einer Nacktheit ein, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählt. Der Graben zwischen dem (Farb-)Ton der filmischen Erzählung und diesen Originalaufnahmen dokumentiert einen spannenden Kontrast. Unzählige Filme „nach wahren Begebenheiten“ wagen diesen Sprung so nicht.
„Luden – Könige der Reeperbahn“ porträtiert zwei Generationen von Kiezgrößen. Im Vordergrund stehen die jungen Wilden. Ihr Anführer ist versponnen, naiv und bleibt seltsam kalt. Während Aaron Hilmer der Achtziger-Schablone verhaftet ist, erscheint Karsten Antonio Mielke in der Rolle des Vorgänger-Luden Beatle zeitlos. Beatle gibt den Zuhälter als Cowboy. Er ist böse und brutal, aber mit einem Gesicht gesegnet, das vom Leben erzählt. Trotz seinem zweifelhaften Charakter strahlt Beatle eine Wärme aus, die ihn zum heimlichen Helden prädestiniert. Kiez-Romantik, wie man ihr als Zuschauer gerne verfällt. Bis zum Finale fragt man sich allerdings, ob dieses Ungleichgewicht einer Regieanweisung entspricht oder nicht. Mutig ist der Auftritt von Jeanette Hain. Ihr gehören Anfang und Finale der Serie, die als kompakter Vierteiler sicher auch gut funktioniert hätte. (Text-Stand: 16.2.2023)