Die vergewaltigte Frau will wissen, wer sie missbraucht und gedemütigt hat
Franziska Wellmer (Stefanie Stappenbeck), Lehrerin, glücklich verheiratet und Mutter einer Teenager-Tochter, ist Opfer einer Vergewaltigung geworden. Das Fatale daran: Sie hat keinerlei Erinnerung an die verhängnisvolle Nacht. Sie war mit ihrer besten Freundin Suse (Mira Bartuschek) beim Klassentreffen in einem Landhotel. Die Stimmung war gut, es wurde getanzt. Tags darauf kann sich Franziska nicht mal mehr an den Tanz mit ihrem Jugendfreund Chris (Oliver Wnuk) erinnern. Oder an die verklemmten Blicke von Jens (Steffen Groth). Alles weg – wie sie in ihr Hotelzimmer kam, mit wem, was dort passiert ist. Und weshalb ist das Zimmer am nächsten Morgen völlig verwüstet und weshalb trägt sie keinen Slip, obwohl sie doch nie nackt schläft? Bei der Polizei erfährt sie von ähnlichen Fällen in der Gegend und davon, dass der Täter ihr K.o.-Tropfen verabreicht haben muss. Da die Droge in Franziskas Blut nicht mehr nachweisbar ist, kann nicht polizeilich ermittelt werden. Was Franziska bleibt ist eine Selbsthilfegruppe für K.o.-Tropfen-Opfer. Doch ihr reicht es nicht, das Erlebte zu verarbeiten, um so wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Sie will wissen, wer sie missbraucht und gedemütigt hat. Ist es tatsächlich jemand aus ihrem Abiturjahrgang? Oder ist es ein Gast oder ein Angestellter gewesen? Franziska kehrt noch einmal an den Ort des Verbrechens zurück. Nicht in kriminalistischer Absicht, sie will sich vielmehr mittels Hypnose zurückversetzen lassen an jenen Abend des Klassentreffens.
Ein Thriller, der immer auch Drama bleibt und Stappenbecks Figur nicht verrät
„Lautlose Tropfen“ ist der Auftakt zu drei neuen TV-Movies, mit denen Sat 1 in der Tradition von modern erzählten Themenfilmen wie „Die Ungehorsame“ oder „Zwei Leben. Eine Hoffnung“ gesellschaftspolitisch Farbe bekennen möchte. Wirkt die dem Zeitgeist abgeguckte #WirZeigenHaltung-Aktion zwar ein Stück weit wie ein Marketing-Instrument, kann sich das Ergebnis auf jeden Fall sehen lassen. Der Film von Holger Haase nach dem Buch von Mirko Schulze und Jochen Ketschau, die den Film auch produziert haben, verpackt das sensible Drama in der zweiten Hälfte in einen packenden Thriller, ohne dabei seine Hauptfigur zu verraten oder zum Racheengel mutieren zu lassen. „Wenn ich das Schwein kriege, dann bring‘ ich ihn um“, verspricht der Ehemann der Vergewaltigten (Max von Pufendorf). Dazu wird es nicht kommen. Die Frau besitzt wie im Fernsehfilm so auch hier die Handlungshoheit. Dieser Franziska Wellmer geht es um Gerechtigkeit, und sie will das Gefühl der Ohnmacht auf keinen Fall in ihrem Unterbewussten zementieren. Stefanie Stappenbeck spielt das mit dem richtigen Maß für die Situation und das Genre. Besonders überzeugend sind die Momente, in denen ihre Figur das Unsagbare in Worte fassen muss; da wirken dann ihre Sätze wie vom Schmerz zerrissen. Sie bleibt die körperlich und seelisch Verletzte, sie ersetzt ihre inneren Qualen nicht durch blinden Aktionismus. Psychologie und Dramaturgie gehen wirkungsvoll Hand in Hand. „Lautlose Tropfen“ will weder Opfer-Selbstfindungsdrama sein, das die therapeutischen Wege zu einer möglichen Heilung durchläuft, noch entwirft es ein „Eine-Frau-sieht-Rot“-Szenario.
Kleine dramaturgische Ungereimtheiten werden von Stappenbecks Präsenz überdeckt
Nach einem Besuch der Hauptfigur in der Selbsthilfegruppe – eine Szene, in der die Autoren einige Aspekte des Themas kompakt und eher beiläufig in die Handlung eingestreut haben, zieht die Spannungskurve noch vor der Halbzeit deutlich an. „Vielleicht kommen noch mehr Erinnerungen zurück“, hofft Stappenbecks Heldin und bleibt nach der Hypnose noch einige Zeit allein in ihrem Hotelzimmer. Und vielleicht kommt ja noch mehr zurück – ahnt in diesem Moment der Zuschauer. Aufgelöst wird die Situation tatsächlich mit einem kurzen Schockmoment, der sich Psychothriller- oder Horrorfilm-like allerdings als Finte entpuppt. Eine ähnliche Situation gibt es zuvor, als sich ein möglicher Fremder Franziska im eigenen Haus nähert – und der Zuschauer nur die Füße des Mannes sieht. Das sind die einzigen Billigeffekte des Films. Aber nur für Sekunden stellt das unlogische Genreklischee das ernstzunehmende Drama infrage. Und bevor ein wagemutiger Plan in Franziska reift, fällt dann auch noch einer dieser Sätze, die man schon viel zu oft in US-Spannungsfilmen oder in TV-Movies der Privatsender gehört hat: „Der ist immer noch da draußen und er wird wiederauftauchen.“ Danach beherrscht wieder ganz die psychisch angeschlagene und physisch weitgehend unbeeindruckte Heldin das Geschehen, und die enorme Präsenz von Stappenbeck überdeckt die kleinen (retrospektiv zu erkennenden) Ungereimtheiten auf der Zielgeraden. Die Auflösung ist – gemessen an der Genre-Logik eines Thrillers – aber durchaus plausibel.
Sensible Ästhetik: Die Kamera macht die Frau nicht noch ein zweites Mal zum Opfer
Regie führt in „Lautlose Tropfen“ Holger Haase („Doctor’s Diary“, „Da geht noch was“), ein Mann für die Qualität im Leichten, der bereits in „Die Ungehorsame“ mit Felicitas Woll zeigen konnte, dass er nicht nur Komödie kann. Auch sein zweites waschechtes Drama besticht durch eine klare Inszenierung: Sie ist geradlinig, unaufdringlich, aber auch atmosphärisch. Als die Welt noch in Ordnung ist, dominieren lange Einstellungen: Selbstbewusst und selbstbestimmt geht die Heldin durch ihr Haus oder läuft wenig später auf der Feier ein – und die Kamera folgt ihr fast wie einem Star. Wie schon in seinem Sat-1-Film über häusliche Gewalt finden Haase und sein Kameramann Uwe Schäfer vor allem aber eine dem brisanten Thema angemessene Filmsprache. Die seelische Verletzung der Heldin wird weder ästhetisch schön gefilmt, noch wird der Zuschauer Augenzeuge der Vergewaltigung. Es gibt ein Video, das der Täter ins Darknet gestellt hat und das er dem Opfer sendet, das auf einem Handy wenige Sekunden zu sehen ist. Klug inszeniert Haase das emotionale Wechselspiel von Nähe und Distanz. Franziska nimmt während der Hypnose den Zuschauer quasi mit hinein in ihren Alptraum, dargestellt wird er allerdings surreal verfremdet. In einer früheren Szene hört man sie bitterlich weinen, das Duschwasser läuft, sie versucht, sich reinzuwaschen – Schuld, Scham, Verzweiflung, Angst und Ohnmacht, all das spürt man in diesen Bildern, obwohl das Kameraauge diesseits der Duschwand bleibt und dem Zuschauer den Blick auf die Heldin verweigert. Wie bereits in „Die Ungehorsame“ macht die Kamera die Hauptfigur nicht noch ein zweites Mal zum Opfer. Wie feinfühlig das Bild dem Zuschauer innere Zustände vermittelt, erkennt man auch in einer Szene, in der Franziskas Mann auf dem Smartphone wort-, ja fast atemlos sich das Vergewaltigungsvideo („War schön mit dir, du geile Ficksau!“) anschaut. Sie weint im Hintergrund, während er weiterhin schweigt – bis nach einer Weile die ersten Tränen aus seinen Augen rinnen. Lautlose Tropfen… (Text-Stand: 4.3.2019)