„Ich hab ihn nicht ernst genommen. Auf jeden Fall ist er jetzt tot“ sagt Kommissarin Lucas, als sie vom Tod des Journalisten Andy Wolf (Peter Wolf) hört. Kurz zuvor war der manische Reporter noch bei ihr im Präsidium, hat ihr eine neue Verschwörungstheorie ausgebreitet und ihr angeboten, Hinweise zu liefern, wie Neonazis Waffen aus unterirdischen Depots beziehen. Wenig später brannte seine Dachwohnung, und er stürzte sich auf die Straße. In der Pathologie stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten nicht um Andy handelt, sondern um dessen Co-Autor. Der wollte Andy verklagen. Das bestätigt auch die schwangere Witwe des Toten. Andy taucht unter und wird zur Fahndung ausgeschrieben. Er nimmt Kontakt zu Kommissarin Lucas auf. Die lässt sich auf einen Deal mit ihm ein und findet heraus, dass es tatsächlich ein historisch belegtes „Gladio“-Programm der NATO in den 1950er Jahren gab, bei dem geheime Waffenlager angelegt wurden. Aus diesem Lager stammen wohl die Waffen- und Sprengstoffbestände der ansässigen Neonaziszene. Und die plant ein Sprengstoffattentat in Regensburg. Eine Spur führt zu dem jungen Johannes Conrad (Merlin Rose). Der ist mit Maria (Almila Bagriacik) liiert, der Tochter von Daniele Grasso (Tommaso Ragno), Besitzer des Restaurants „Camerota“, über dem Andys ausgebrannte Wohnung liegt…
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Zum 25. Mal verkörpert Ulrike Kriener in „Kommissarin Lucas – Familiengeheimnis“ die streitbare Ermittlerin. Film und Fall zeigen die Stärken dieser ZDF-Reihe: Gute Bücher, atmosphärisch dichte Inszenierungen und facettenreiche Charaktere. Und natürlich eine Ermittlerin, die ernst, energisch, aber auch emotional und eigen sein kann. „Ellen Lucas hat sich in Nuancen verändert, so wie jeder Mensch durch die Beziehungskonstellationen, in denen er steht“, resümiert Ulrike Kriener, „aber im Kern ist sie die gleiche geblieben: Eine Frau mit Tendenz zum Einzelgängertum, eine moralische Frau, die aus dem Stand aggressiv werden kann, und eine Frau, die kein Problem hat, ihr Team zu führen und der die Kollegen eine gewisse Raubeinigkeit unterstellen.“ All diese Eigenschaften darf sie auch diesmal unter Beweis stellen. Dafür sorgen die Autoren Thomas Schwebel und Daniel Schwarz, die auch schon den letzten Fall „Schuldig“ geschrieben haben, und Regisseur Ralf Huettner. Der hat nach „Gierig“, „Der Wald“ und „Kreuzweg“ bereits seinen vierten „Lucas“-Krimi inszeniert.
Erst sieht man nur das Gesicht, dann die Umklammerung der Aktentasche, danach folgt die Kamera dem Journalisten Andy Wolf ins Präsidium und zeigt, wie er sich Zugang zum Büro der Lucas verschafft: Regisseur Huettner fackelt nicht lange, kommt schnell zur Sache. Und diese Stringenz und Nähe zu den Figuren setzt sich bis zum Ende fort. Damit das schwere Thema nicht zu ernst umgesetzt wird, hat er ein paar schöne, auflockernde Szenen eingestreut. Etwa, wenn Jung-Ermittlerin Judith Marlow (ein Nachname, der Assoziationen weckt!) in der Pathologie sich auf den Seziertisch neben der Leiche legt und so feststellt, dass der Tote wegen seiner Größe eine andere Person sein muss: „Das ist nicht Andy Wolf“. Oder auch bei der herrlichen Schlußszene zwischen Ellen und ihrem kauzig-schrulligen Vermieter und Nachbarn Max (Tilo Prückner). Ein kleines Kabinettstückchen, worum es dabei geht, soll hier noch nicht verraten werden. Für die markante Kameraarbeit zeichnet Thorsten Harms verantwortlich; der arbeitet mit gelungenen und für eine lebendige Inszenierung sorgende Perspektivwechsel und findet auch eindrucksvolle Bilder in der ausgebrannten Wohnung.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Hintergrund: Gladio – Geheimarmeen in Europa
Während des Kalten Krieges unterhielten die NATO, der CIA, der britische MI6 und andere europäische Geheimdienste paramilitärische Geheimorganisationen in ganz Westeuropa. Diese sollten im Falle einer sowjetischen Besatzung einen Guerillakrieg führen. Ende der 1950er Jahre war der Aufbau von Gladio abgeschlossen, doch der sowjetische Angriff blieb aus. Was aus den geheimen Strukturen wurde, ist weitgehend unbekannt, doch es gibt Hinweise, dass Mitglieder der Geheimorganisationen rechtsgerichtete Terrorakte verübten. 1980 detonierte eine versteckte Zeitbombe im Wartesaal des Bahnhof Central in Bologna. Dabei wurden 85 Menschen getötet. Im September des gleichen Jahres gab es auch in Deutschland Bombenopfer: beim Münchner Oktoberfestattentat starben 13 Menschen und über 200 werden zum Teil schwer verletzt. Im Laufe der Jahre häuften sich die Indizien, dass diese Anschläge in einem möglichen Zusammenhang stehen. Alle Täter kamen aus dem Umfeld rechtsradikaler Gruppen. Mehrfach wurde militärischer Sprengstoff benutzt. Spuren führten zu Gladio. Im Oktober 1981 führte der aktenkundige Rechtsextremist und mögliche Gladio-Agent Heinz Lembke die Polizei zu mehreren Waffendepots in der Lüneburger Heide. Dort lagerten automatischen Waffen, Munition, Sprengstoff, Handgranaten und chemischen Kampfstoffe. Ein Gladiolager? Lembke hatte Kontakt zur rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann, zu der auch der München-Attentäter Gundolf Köhler gehörte. Möglich also, dass der Sprengstoff für den Münchner Anschlag von Lemke stammte. Bei den Ermittlungen der Bundesstaatsanwaltschaft spielte das keine Rolle. Die Asservate sind mittlerweile vernichtet. Haben Rechtsextremisten also Gladio-Strukturen auch in Deutschland benutzt? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Die Gegen-Meinung:
„Weder so richtig spannend noch psychologisch ausgeklügelt: Trotz einiger guter Momente wirkt diese Folge wirr, zerfahren und nur wenig inspiriert. Fazit: Fahrig geraten, ohne Zug und Drama“ (TV-Spielfilm)
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Die Story des Autoren-Duos Schwebel/Schwarz ist geschickt & klug gebaut, lange folgt man den falschen Fährten, einzig der etwas unglückliche Episoden-Titel „Familiengeheimnis“ lässt einen schon vermuten, wohin die Reise geht. Doch die Hintergründe werden erst spät präsentiert und sind überraschend. Und die politische Dimension macht diesen Krimi zu einer nicht nur spannenden, sondern auch aufklärerischen Angelegenheit. Denn der Fall thematisiert geheime Waffendepots aus dem „Gladio“-Programm der 50er Jahre. Die gab es in den bayerischen Wäldern wirklich. Und auch geheime Kampfverbände. Darüber wird heute meist geschwiegen, Archive bleiben unter Verschluss, der politische Wille zur Aufklärung fehlt. So kommt dem Film das Verdienst zu, diesen brisanten Hintergrund mit Verbindungen zu den rechtsradikalen Attentaten 1980 in Bologna und anderswo in einen spannenden Krimi verpackt zu haben. Man erfährt viel – aber ohne auf Kosten der Unterhaltung zugetextet zu werden.
Beinahe neu im Ermittler-Team ist und für eine frische Note sorgt Jördis Richter. Die Schauspielerin war 2015 schon einmal in der Episode „Der Wald“ zu sehen und ist jetzt die forsche neue Assistentin von Frau Lucas. Kleine Reibereien zwischen beiden hält das Drehbuch bereit, doch die sind – anders als beispielsweise bei Lena Odenthal und Frau Stern im Ludwigshafen-“Tatort“ – sehr behutsam und homogen in die Story eingeflochten.