Um Störungen der Nachtruhe vorzubeugen, versieht Hausbesitzer Max Kirchhoff (Tilo Prückner) die Klingelanlage mit einer Schaltuhr. Fortan werden die Schellen ab 22 Uhr schweigen. Kirchhoffs liebste und einzige Mieterin Ellen Lucas (Ulrike Kriener), die sich gerade für ihren morgendlichen Dauerlauf aufwärmt, ist nicht einverstanden mit dieser Maßnahme. Ungnädig weist Max den Einspruch zurück: „Ja, hoffen Sie immer noch, dass Sie einer besucht nach 22 Uhr?“ Die Lucas zieht beleidigt ab. So kennen die Stammzuseher ihren Max. Rau und nur in Ausnahmefällen herzlich. Neulinge wissen ihn gleich richtig einzuschätzen. Und der tägliche Dauerlauf der Kommissarin Lucas wird alsbald eine Rolle spielen. Denn am nächsten Tag lauert ihr unterwegs jemand auf, überwältigt und entführt sie. Es ist der aus der Haft entwichene frühere Psychologiedozent Dr. Bernd Stach (Florian Teichtmeister). Im Verlauf einer Party seines Instituts soll er eine Studentin ermordet haben, mit der er eine außereheliche Affäre hatte. Ellen Lucas hatte ihn seinerzeit überführt.
Drei Faktoren waren für Stachs Verurteilung ausschlaggebend: An der Toten wurde seine DNA gefunden, eine Studentin (bemerkenswert: Newcomerin Lena Kalisch) will Stach am Tatort gesehen haben – und er unterstrich während der Vernehmung durch einen Angriff auf Ellen Lucas, dass er zu unkontrollierten Ausbrüchen neigt. Trotz der scheinbar hieb- und stichfesten Beweislage blieb Stach dabei, die Tat nicht begangen zu haben. Auch jetzt, nach der Entführung, beteuert er seine Unschuld. Nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, sah er seine letzte Rettung in der Flucht. Doch er bleibt in Regensburg, will seine Unschuld beweisen, auch um die Beziehung zu seiner Familie und insbesondere zur kleinen Tochter zu retten. Lucas soll die Ermittlungen wieder aufnehmen. Die Kollegen um Abteilungsleiter Boris Noethen (Michael Roll) machen aber derweil Stachs Versteck ausfindig.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Der Psychologe hat Ellen Lucas richtig eingeschätzt. Sein Vortrag und von ihm selbst recherchierte Aspekte, die bei den ursprünglichen Ermittlungen übersehen worden waren, wecken ihre Skepsis. Ihr Vorgesetzter Noethen frotzelt: „Was wird das jetzt? Stockholm-Syndrom?“ Die überzeugende Antwort der Kommissarin: „Eher Lucas-Syndrom. Alles für möglich halten. Auch den eigenen Irrtum.“ Diese Worte beschreiben bündig die Qualitäten dieser seit 2003 mit jährlich ein bis drei Folgen fortgesetzten Reihe. „Das Lucas-Syndrom“ – welch ein passender Titel. Es gab in all den Jahren einzelne Ausrutscher in Richtung Mittelmaß und Routine, aber insgesamt bewegt sich die Reihe mit ihren oft vorzüglichen, sorgfältig durchgearbeiteten Drehbüchern auf hohem Niveau, vergleichbar den in dieser Hinsicht maßgeblichen britischen Qualitätskrimis.
Die Hauptfigur bleibt in der schlüssigen Entwicklung. Ellen Lucas wird – im aktuellen Beispiel von Drehbuchautor Peter Probst („Die Hebamme – Auf Leben und Tod“) – stets so gezeichnet, wie sich ein Mensch eben verhält, der beruflich Zeuge vieler Tragödien wurde und privat selbst manch schwere Stunde erlebt hat. Sie wirkt oft schroff, misstrauisch, abweisend, und hat doch insgeheim den Glauben an die Menschheit nicht verloren. Das kauzige Benehmen ihres Vermieters Max kommt ihr durchaus entgegen. Für überfürsorgliches Verhalten und hohle Höflichkeitsriten hat sie wenig übrig. Hauptdarstellerin Ulrike Kriener hat sich diesen Charakter perfekt angeeignet, trifft, bar jeder manierierten Schaustellerei, genau den richtigen Ton. Eigentlich eine preiswürdige Leistung, zumal in dieser Beständigkeit.
Nicht nur die Kommissarin, auch die übrigen Figuren bekommen stimmige Dialoge zugemessen – markant, aber immer noch alltagsnah. Spannung gewinnt der Film, wie so viele dieser Reihe, aus dem oft unvorhersagbaren menschlichen Verhalten. Der maßgebliche Unterschied zur Krimi-Durchschnittsware: Die Handlung ergibt sich aus dem Wesen der sorgfältig entworfenen Figuren. Sie werden nicht – oder nur selten – um des Effektes willen willkürlich über das Spielfeld geschoben. Die gleiche Präzision zeigt sich in Nils Willbrandts Regie. Die Lichtsetzung wirkt trotz ihres Noir-Touches natürlich, der herbstlichen Jahreszeit angepasst. Fast scheint es, als habe Kameramann Jens Harant auf künstliches Zusatzlicht verzichtet. Jeder Polizeikrimi hat seine Standardsituationen, aber Willbrandt weiß sie durch unscheinbare Kleinigkeiten aufzuwerten. Als die Kommissare Judith Marlow (Jördis Richter) und Tom Brauer (Lasse Myhr) eilig zu einem Einsatz ausrücken, klapst Marlow dem Kollegen frech auf den Hintern und mahnt: „Los, Beeilung.“
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Ein solcher Moment, hier die schelmische Umkehrung männlichen (Fehl-)Verhaltens, verletzt die Krimiroutine, verblüfft und wirkt wie ein Weckruf an diejenigen unter den Zuschauern, die sich in Erwartung des vermeintlich Gewohnten bereits wohlig eingerichtet hatten. Auch das typengenaue Casting und die milieugerechte Musik tragen zum positiven Gesamteindruck der 27. Episode „Das Urteil“ bei, um nur zwei Gewerke stellvertretend zu nennen. Schade ist, dass im Zuge der bis in die Albernheit euphorischen Berichterstattung rund um „Die Neue Deutsche Serie“ mäßigere Produktionen mit viel Getöse ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden, während bestehende Reihen und Serien, eingeschlossen „Kommissarin Lucas“, unverdientermaßen weniger Aufmerksamkeit finden. (Text-Stand: 8.8.2018)