Mädchen denken schon in jungen Jahren viel stärker über ihre Identität nach als Jungs. Sie fragen sich zum Beispiel, warum sie anders sind als ihre Eltern, und stellen sich dann vor, sie seien als Baby vertauscht worden und in Wirklichkeit eine Prinzessin. Filme, die solche Geschichten erzählen, haben gern einen entsprechend märchenhaften Charakter. „Die andere Tochter“ ist jedoch kein Märchen, sondern ein Drama, denn Heldin Jette (Paula Schramm) ist keineswegs unglücklich. Vater Henrik (Leonard Lansink), ein knorriger Fischer, mag nicht immer der herzlichste sein, aber das einzige, woran es seiner Tochter gemangelt hat, war die Liebe ihrer Mutter, denn die ist bei Jettes Geburt gestorben. Die junge Frau ist eine begabte Zeichnerin und wollte eigentlich in Stockholm Design studieren, aber Henrik erblindet; nun hält sie sich und ihn als Kellnerin über Wasser. Als sich im Zuge der Digitalisierung von Krankenakten rausstellt, dass das Krankenhaus damals zwei Babys vertauscht hat, scheint sich alles zum Guten zu wenden, zumal ihre leibliche Mutter Lillemor ein Mitglied der Möbelhaus-Dynastie Borgen ist. Jette hat zwar gar kein Interesse am Vermögen der Borgens, aber die Familie will trotzdem keinen Kontakt zu ihr. Vor allem Nele (Nina Brandt), die „andere Tochter“, tut alles, um zu verhindern, dass sich Jette und Lillemor (Kracht) kennenlernen; und das nicht nur, weil sie um ihren Sitz im Vorstand des Unternehmens fürchtet.
Viele „Herzkino“-Filme im ZDF zeichnen sich dem Vorurteil zum Trotz durch Drehbücher aus, die ihren überschaubaren Kern in eine überraschend komplexe Handlung betten. Das gilt auch für „Die andere Tochter“, zumal Stefanie Sycholt die Geschichte selbstredend um eine Romanze ergänzt: Jette verliebt sich in den Juristen Steffen (Max Woelky), der sich allerdings als Anwalt der Borgens entpuppt. Trotzdem sorgt er dafür, dass sich Mutter und Tochter treffen. Die Begegnung der beiden Frauen ist herzlich, aber als Lillemor klar wird, wie sehr Nele unter den Ereignissen leidet, will sie Jette nicht mehr sehen, um nicht erneut eine Tochter zu verlieren; Nele wiederum, selbst bis vor Kurzem mit Steffen liiert, treibt mit Erfolg einen Keil zwischen das Liebespaar. Davon abgesehen hat Jette schon einen Freund; allerdings genügt Sycholt ein kurzer Moment, um früh zu verdeutlichen, dass Tom (Brückner) nicht der Richtige für sie ist. Angesichts des konservativen Sendeplatzes ist es erstaunlich, wie oft die Heldinnen eine Beziehung beenden, weil sie die Liebe ihres Lebens gefunden haben.
Foto: ZDF / Arvid Uhlig
Sycholt hat schon diverse Drehbücher für ZDF-Sonntagsreihen wie „Inga Lindström“, „Cecilia Ahern“ oder „Ein Sommer in…“ geschrieben. Gerade ihre „Lindström“-Geschichten sind zwar wie alle „Herzkino“-Beiträge nicht frei von Klischees, aber Filme wie „Zurück ins Morgen“, „Kochbuch der Liebe“ oder „Familienbande“ (gleichfalls mit Lansink) waren ebenso wenig Zeitverschwendung wie die zu Beginn des Jahres ausgestrahlte und gleichfalls von ihr selbst inszenierte Episode „Lilith und die Sache mit den Männern“, eine amüsante Geschichte über eine Fehde zwischen zwei Familien, die jeweils überwiegend aus Männern beziehungsweise Frauen bestehen. Der Film zeichnete sich nicht zuletzt durch die ausnahmslos gute Arbeit mit dem Ensemble aus. Für „Die andere Tochter“ gilt das nicht minder, wenn auch mit einer Einschränkung: Nele ist eine völlig eindimensionale und auch etwas farblos-steife Figur, wie schon ihre entsprechende Kleidung signalisiert. Sycholt reduziert die junge Frau auf die Angst, ihren Status als Tochter aus gutem Hause zu verlieren, weshalb Nele nicht davor zurückschreckt, nach Kräften gegen Jette zu intrigieren. Dass Nina Brandt als typisches Soap-Biest agieren muss, liegt also am Drehbuch, aber sie trägt auch ihre Dialoge nicht immer überzeugend vor. Paula Schramm hat naturgemäß die deutlich dankbarere Rolle, und das nicht nur, weil sie die Heldin der Geschichte ist und mit ihrer farbenfrohen Kleidung viel Lebensfreude signalisiert (Kostümbild: Tanja Wagner); die Vorliebe für Rot, auch das ein netter Einfall, hat sie von ihrer Mutter. Die natürliche Herzlichkeit der Schauspielerin hat schon die Sonntagsfilme „Die Kinder meiner Schwester“ (Lindström, 2015) und „Fast noch verheiratet“ (Pilcher, 2017) über den Schnitt gehoben.
Da Max Woelky seine Sache als „love interest“ ebenfalls gut macht und den Juristen mit deutlich mehr Herz verkörpert als manch’ anderer männlicher „Herzkino“-Hauptdarsteller, ist die romantische Ebene des Films jederzeit glaubwürdig. Die Regisseurin inszeniert das Liebespaar zudem auf eine für den geradezu keuschen Sendeplatz ungewohnt erotische Weise und leitet diesen Moment auch noch mit einem neckischen Übergang ein. Für Augen- und Ohrenschmaus sorgen schließlich die obligaten schönen Schwedenbilder (Kamera: Thomas Etzold, gedreht wurde in Norköpping und auf der Halbinsel Vikbolandet) sowie die gefällige Musik, die deutlich weniger abgeschmackt klingt als in vielen anderen „Pilcher“- und „Lindström“-Filmen, was Komponist Andy Groll schon gleich zu Beginn mit seiner Variation des typischen Titelmotivs andeutet. Der Rest ist fürs Herz: Im letzten Drittel dürften nicht nur vor der Kamera einige Tränen fließen, weil es zu verschiedenen rührenden Begegnungen kommt. Gerade Leonard Lansink und Marion Kracht haben einige zu Herzen gehende Momente: Lillemor macht sich bittere Vorwürfe, weil sie das Krankenhaus einst mit dem falschen Baby verlassen hat; und Henrik fürchtet, nach dem Augenlicht nun auch noch das Licht seines Lebens zu verlieren. (Text-Stand: 6.9.2018)