„Ich war eine glückliche Frau“ ist ein Film wie ein Vexierbild: Auf den ersten Blick ist die Geschichte um eine kranke Frau, die im Alltag ihrer Nachbarn „die bisher unausgefüllten Momente ihrer Lebens“ erkennt, leicht zu durchschauen. Aber im zweiten Drittel des Films wechselt die Perspektive, und es stellt sich heraus: In Wirklichkeit war alles ganz anders. Das Glück der Anderen war nur eine Einbildung, eine fehlerhafte Interpretation der Zeichen. So erklärt sich auch im Nachhinein, warum die Kamera bei den Aufnahmen zu Beginn auf dem Kopf steht: weil den Bildern nicht zu trauen ist. Die Handlung beginnt mit einem dringenden Anliegen. Eva Sanders (Petra Schmidt-Schaller) genießt die Spätsommersonne, als sie den Anruf eines früheren Nachbarn erhält: Der kürzlich verwitwete Herr Blok (Rainer Bock) muss dringend mit ihr sprechen, über sie und seine Frau, die beiden hätten sich doch sehr nahe gestanden. Eva ist überrascht, denn sie kannte Frau Blok kaum; aber sie lässt sich überreden. Hermann Blok wirkt mit seinen altmodischen Hosenträgern wie aus der Zeit gefallen, er deutet zur Begrüßung eine Verbeugung an, und wenn er auf die Straße geht, dann nur mit Hut, den er höflich lupft, wenn er jemandem begegnet. Die Geschichte, die er Eva erzählt, entpuppt sich schließlich als ähnlich merkwürdig, aber zunächst ist sie vor allem betrüblich: Das Ehepaar Blok hatte sich auf den gemeinsamen Lebensabend gefreut, aber Sylvia (Imogen Kogge) wurde just zu Hermanns Pensionierung von einer rätselhaften Lethargie ergriffen.
Bis dahin fragt sich nicht nur Eva Sanders, warum Herr Blok um das Gespräch gebeten hat, doch dann nehmen seine Erzählungen eine entscheidende Wende: Eines Tages erwachte seine Frau zu neuem Leben. Ihre Antriebslosigkeit verflog, als die Sanders die Buche verpflanzen ließen, die den Bloks bislang den Blick aufs Nachbarhaus verwehrt hatte. Fortan verbrachte Sylvia ihre Tage damit, aus der Distanz am Familienidyll von Eva, Jan (Marc Hosemann) und ihren Kindern teilzunehmen. Wie andere Frauen in ihrem Alter von den Enkeln schwärmen, so berichtete sie Hermann abends in den schönsten Farben, was es nebenan Neues gab und wie Eva bei einer Gartenparty gestrahlt habe. Dabei ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf; auf diese Weise wurde unter anderem Jan, in Wirklichkeit Autohändler, zum Staatsdiener.
Ihr Smartphone ist ein Fenster, das simulierte Leben eine Seifenoper
„Ich war eine glückliche Frau“ ist nach einer literarischen Erzählung entstanden. Aus dem Manko einer solchen räumlich begrenzten Geschichte mit viel Dialog hat Regisseur Martin Enlen – wie Gangloff anmerkt – durch seine reflektierte Visualisierung eine besondere Stärke gemacht. Die flüssige Verschmelzung der Zeitebenen dürfte bereits in Eddas Leeschs konzentriertem Drehbuch angelegt gewesen sein. Aus „Das Fenster zum Hof“ wird quasi das Fenster zum Nachbargarten mit Blick auch in den gläsernen Bungalow der vermeintlich glücklichen Familie. Die Ausgangssituation ist ähnlich wie bei Hitchcock (es gibt im Übrigen auch noch eine „Psycho“-Anspielung): nur, diese kranke, gutherzige „Voyeurin“ ist nicht körperlich beeinträchtigt, sondern besitzt eher ein seelisches Handicap. Und während die James-Stewart-Figur aus den äußeren Zeichen das Richtige ableitet, reimt sich Frau Blok ein Herzkino-Eheszenario zusammen, das völlig an der Wahrheit vorbeigeht. Diese ältere Dame hat kein eigenes Leben (mehr), sie geht auf im Leben ihr weitgehend fremder Menschen, liked quasi ständig den Alltag dieser Familie. Doch sie ist mehr der analoge Typ: Ihr Smartphone ist ein Fenster, sie braucht keine digitale Welt, ihr genügt der Lebensbereich der Nachbarn. Die schöne Eva und der anfangs so galante Jan werden ihre Helden des Alltags. Sie phantasiert sich aus dem Augenschein ihre ganz individuelle Seifenoper, die sie allerdings nicht mehr erträgt, als selbst sie die Risse in der Beziehung nebenan nicht mehr übersehen kann. Am Ende erfährt das, was manch einer schnell als Stalking abtun dürfte, eine geradezu transzendente, warmherzige Wendung in sein Gegenteil („Jemand hat ein Auge auf mich“). Über diesen anregenden Lesarten- & Subtext-Reichtum hinaus erzählt diese HR- Produktion eine scharfsinnige, ungewöhnliche Geschichte; dass diese nicht den Schulterschluss mit dem Krimi sucht, macht sie noch wertvoller. R.Tittelbach
Bloks Geschichte hat nur einen Fehler: Sie ist nicht wahr; und nun erzählt Eva, was sich im Nachbarhaus wirklich zugetragen hat, warum die Verpflanzung der Buche, wie ihr später klar wurde, der Anfang vom Ende und das Gartenfest eine Qual war. Beinahe unmerklich streut Martin Enlen von Beginn an Details ein, deren Bedeutung sich zwar erst später erschließt, die aber schon früh erahnen lassen, dass irgendetwas nicht stimmt; das gilt neben den irritierenden ersten Bildern auch für den seitenverkehrten Vorspann. Dank der vielen kunstvoll miteinander verknüpften Rückblenden treibt der Regisseur ein ausgesprochen cleveres Spiel mit dem Publikum: weil sich bedrohliche Aufnahmen als völlig harmlos entpuppen, während die Idylle pure Fantasie ist. Der gelegentlichen Kommentarsätze, die Petra Schmidt-Schaller sprechen muss und die allzu literarisch gewichtig klingen, hätte es überhaupt nicht bedurft.
Allerdings stören sie auch nicht weiter, denn Enlens größte Leistung besteht darin, dass dieses bühnenhafte Drama, in dem die ganze Zeit geredet wird, dennoch vor allem über die optische Ebene funktioniert. Das gilt nicht nur für die kurzen Einstellungen, die beim Blick aus dem Fenster den Wechsel der Jahreszeiten zeigen, sondern vor allem für das Spiel von Petra Schmidt-Schaller, die gewissermaßen eine Doppelrolle verkörpert: In Sylvias Erzählungen ist sie eine offene, lebensbejahende und in der Tat strahlende junge Frau und Mutter; zeigt Enlen hingegen ihre Sicht der Dinge, schleichen sich Trauer und Wut in die Idylle. Viele Szenen funktionieren zudem auch ohne Worte. Als selbst Sylvia nicht länger verborgen bleibt, dass das harmonische Dasein nebenan Risse bekommen hat, tut Hermann alles, um die Illusion aufrechtzuerhalten – vergeblich. Schließlich muss seine Frau ins Krankenhaus. Die Kamera bleibt auf Distanz, als der Arzt den Gatten informiert, aber Rainer Bocks Körpersprache lässt keinen Zweifel an der Diagnose. Kurz drauf steht Hermann draußen, der Wind reißt ihm den Hut vom Kopf, er reagiert überhaupt nicht; so einfach kann es sein, seelischen Schmerz zu vermitteln. Die letzten Szenen zeigen seine ebenso hilflosen wie vergeblichen Versuche, das Paar dazu zu bewegen, sich wieder zu versöhnen; umso grimmiger ist die Schlusspointe.
Das Drehbuch ist von der Schauspielerin Edda Leesch, die sich seit einigen Jahren fast nur noch aufs Schreiben beschränkt. Ihre Geschichten, zuletzt zum Beispiel „Zwei verlorene Schafe“ über einen zweifelnden Priester, kommen gern komisch daher, behandeln aber fast immer ernste Themen. Von Komödie kann hier nicht die Rede sein: Das Vier-Personen-Stück „Ich war eine glückliche Frau“ ist eine vorzüglich gespielte Parabel über Schein und Sein.