Wer auf das Finden von Vermissten spezialisiert ist, der müsste auch vom Verschwinden eines Menschen etwas verstehen. Das nimmt eine ehemalige Kollegin von Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin) an – und engagiert den aus dem Polizeidienst ausgeschieden Privatdetektiv in eigener Sache. Tascha (Emily Cox), die sich einst als junge Polizistin 36 Stunden in der Gewalt eines brutalen Geiselnehmers befand, hat dieses schwere Trauma neun Jahre mit sich herumgeschleppt. Jetzt ist ihr Peiniger, Gerald Metzner (Maximilian Brauer), vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Zu den ewigen Alpträumen kommt nun noch die Angst hinzu, dieser Mann werde sich an ihr rächen; war es doch ihre Aussage, die zu seiner Verurteilung führte. Seeler versucht vergeblich, Tascha von dem Plan abzubringen, auf der maltesischen Insel Gozo ein neues Leben zu beginnen. Ist dieser Mann tatsächlich so gefährlich oder spielt sich nicht das Meiste nur im Kopf der panisch verängstigten Frau ab? Sein Betreuer (Maximilian Grill) jedenfalls verweist auf Metzners gute Prognose. Für Tascha aber steht ihr Entschluss fest. Außer ihre Großmutter (Monika Lennartz) würde sie in Deutschland niemanden vermissen. Besonders gemocht habe sie jedoch immer schon ihren Kollegen Seeler. Aber der war damals verheiratet. Vielleicht könne er sich ja auch ein solches neues Leben vorstellen…
Foto: Degeto / Luis Zeno Kuhn
Das ist gar nicht mal abwegig. Denn auch der Ex-Polizist befindet sich in einer existentiellen Umbruchphase: Er hat seine Frau verloren – wobei ihn noch immer die Frage quält, ob es ein Unfall oder Suizid war. Für „Ein neues Leben“, so auch der Titel der zweiten „Hartwig Seeler“-Episode, wird sich die Hauptfigur natürlich nicht entscheiden; schließlich wollen die ARD Degeto und die Produktionsfirma Hager Moss Film die 2019 erfolgreich gestartete Krimidrama-Reihe fortsetzen. Das wäre auch ganz im Sinne der Genre-Vielfalt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Denn Hartwig Seeler ist kein gewöhnlicher Privatdetektiv. Der von Matthias Koeberlin angenehm zurückgenommen und mit hoher Blick-Intensität verkörperte Held wirkt vielmehr wie eine Art Kundschafter der Seele. Das Interesse am Menschen haben er und sein Schöpfer Johannes Fabrick gemeinsam, der wie schon bei „Gefährliche Erinnerung“ wieder Buch und Regie übernommen hat. Zusammen mit seinem Hauptdarsteller hat der Österreicher, der sich seit jeher mehr für seelische Abgründe als für mörderische Absichten interessiert, eine Figur kreiert, die größer unterwegs ist. Seeler (nomen est omen!) geht es nicht darum, als Privatdetektiv Bulle zu spielen, sprich, pragmatisch für Recht und Ordnung zu sorgen, er will hinter die Dinge schauen, das Menschsein verstehen und dabei helfen, neue Regeln für das Miteinander aufzustellen. „Wenn uns klar wird, dass wir uns jederzeit irren können, dann wird es vielleicht irgendwann wichtiger, gemeinsam die Wahrheit zu finden, anstatt sich durchzusetzen“, ist am Ende des Films sein Wort zum Sonntag. Eine Rarität: eine Reihe, die mit Lebensphilosophie statt moralischen Haltungsnoten glänzt.
Foto: Degeto / Luis Zeno Kuhn
Dem Plädoyer für mehr Nachsicht und Rücksicht schickt Fabrick die Prämisse voraus, dass menschliche Kommunikation bis zu einem gewissen Grad unergründlich sei. Du kannst dir niemals sicher sein – was dein Gegenüber, ja, was dein Liebster, denkt. Und so zermartert sich nicht nur Seeler das Hirn über den Tod seiner Frau, auch für die Episodenheldin in „Ein neues Leben“ kann es am Ende auf ihre dringlichste Frage keine Antwort geben. Dennoch weicht auch bei ihr die Verzweiflung und mündet wie bei dem Titelhelden in eine hoffnungsvolle Nachdenklichkeit. Die intensiven Zwei-Personen-Szenen besitzen Tiefe, kommen aber ohne die oft unangenehme deutsche Schwermut aus. Taschas Geschichte liefert gute Gründe dafür, weshalb die junge Frau irgendwann des Lebens müde ist. Wie immer in den Filmen von Johannes Fabrick geht es um (unkontrollierbare) Gefühle, um magische Momente und die Transzendenz des Augenblicks. Dieses Erzählen von Möglichkeiten jenseits des Faktenchecks eines klassischen Ermittlerkrimis ist bekanntlich nicht jeder (vor allem) Manns Sache. Wer’s jedoch mag, der wird eingesogen von der Kraft der Phantasie und der subjektiven, mitunter übersinnlichen Wahrnehmung der Hauptfigur. Aber auch Emily Cox gelingt es, ihren schwer durchschaubaren Charakter dem Zuschauer emotional näher zu bringen. Man fühlt mit beiden mit – ohne Kitschmomente, ohne simple Psychologisierung. Hartwig Seeler hat Erscheinun-gen. „Ich weiß, dass ich träume“, sagt er zu seiner toten Frau, worauf sie mit übernatürlicher Sanftmut antwortet: „Auch wenn ich nicht real bin, so kann ich doch sehr wirklich sein.“
Wo es eine große Nähe zu den Charakteren eines Films gibt, bedarf es ausreichender Distanz zu deren Spiel, damit es nicht zu wohlfeilen Melodram-Momenten kommt, bei denen man vor lauter Tränen nichts mehr versteht. Die Gefahr umschifft Fabrick mit der speziellen Form seiner Inszenierung. Wenn es zum Inhalt einer Szene passt, geht Kameramann Helmut Pirnat mittenrein in die Interaktion, scheut keine Close-Ups; so kann der Betrachter den Figuren das Innenleben förmlich vom Gesicht ablesen (oder er glaubt es zumindest). Dann aber springt Pirnat mitunter – auch unvermittelt – in Totalen mit ausgefallenen Perspektiven. In besonders emotionalen Szenen entfernt sich schon mal die Kamera mit Schwenk oder Drohnenflug, um die erzählte Emotion nicht auszustellen oder womöglich zum Effekt verkommen zu lassen. Besonders atmosphärisch wird es in den Szenen im Dunkel der Nacht, in denen sich die menschlichen Abgründe besonders nachdrücklich manifestieren. Für das Rätselhafte, dieses Nie-genau-wissen-können finden Fabrick und Pirnat immer wieder filmsprachliche Entsprechungen. Die Dinge verschwimmen, werden manchmal nur ausschnitthaft gezeigt, die Kamera schleicht über den Boden, und mal fordert ein Schnitt die Phantasie des Zuschauers heraus. Prinzipiell folgt man der Wahrnehmung des Privatdetektivs, besitzt ihm gegenüber aber auch schon mal einen kleinen Wissensvorsprung, was die seelische Verfassung seiner Auftraggeberin angeht. Aber absolut sicher kann man sich nie sein… (Text-Stand: 16.3.2021)
Foto: Degeto / Luis Zeno Kuhn