„Der Himmel soll warten“ mit Warren Beatty war eine der schönsten Romanzen der späten Siebziger. „Fritzie“ hat zwar trotz der Parallele im Titelzusatz „Der Himmel muss warten“ inhaltlich nicht viel mit der Fantasy-Komödie gemeinsam, aber die positiven Gefühle, die die sechsteilige Serie weckt, sind ganz ähnlich: Das Thema ist denkbar dramatisch, doch die Erzählweise ist alles andere als deprimierend. Dabei beginnt die erste Folge gleich mit einem Hammer. „Es sieht nicht gut aus“, sagt Kirsten Block als Ärztin direkt in die Kamera: Fritzie Kühne (Tanja Wedhorn) hat Brustkrebs. Der Tumor ist bösartig und aggressiv; er muss so schnell wie möglich entfernt werden. Fritzie reagiert, wie es viele Menschen tun würden: Sie lässt die schlechte Nachricht und damit auch deren Tragweite nicht an sich ran; deshalb handelt die Serie fortan von allem Möglichen, aber nicht vom Krebs. Allerdings bringt sich die Krankheit immer wieder in Erinnerung, wenn auch nicht körperlich. Fritzie, die ausschließlich mit dem Rad unterwegs ist und viel im schönen Neuköllner Stadtbad schwimmt, wo sie ein bisschen mit dem Bademeister (Tobias Licht) flirtet, fühlt sich mit Mitte 40 völlig fit. Aber sie hat Visionen: Mal sieht sie Freunde und Familie bei der eigenen Beerdigung, mal zeigt ihr Spiegelbild sie ohne Brüste. Außerdem ziehen sich zwei Metaphern durch die sechs Folgen: Mehrfach hält Fritzie inne und betrachtet nachdenklich die wuchernden Mistelgewächse in den Bäumen. Ein weiteres Bild, das regelmäßig auftaucht, zeigt ein Ameisenvolk, das sich vorgenommen hat, ihr Haus zu erobern. Während sie im Alltag trotzdem so tut, als wäre nichts passiert, geht der Gatte in die Offensive: Stefan (Florian Panzner) ist Polizist, will dem Krebs das Leben so schwer wie möglich machen und stellt die Ernährung der Familie radikal um.
Trotzdem ist „Fritzie“ keine Serie über eine Krankheit. Ohne den Schicksalsschlag entsprächen die Drehbücher von Kerstin Höckel und ihren Koautorinnen Christiane Bubner und Katja Grübel einem ZDF-Pendant zum RTL-Dauerbrenner „Der Lehrer“. Fritzie unterrichtet Biologie und Sport an einem Berliner Gymnasium und muss sich täglich mit dem ganz normalen Schulwahnsinn herumschlagen: Drogen, Prüfungsängste, Mutproben, Mobbing, verstopfte Klos, eine Teenager-Schwangerschaft sowie das typische Pubertätsgehabe der 16jährigen Jungs in ihrer Klasse. Sohn Florian (Nick Julius Schuck) erlebt zudem seine erste große Liebe; sein Nebenbuhler ist ausgerechnet der großmäulige Leon (Ivo Kortlang), der ständig Fritzies Unterricht stört.
Darüber hinaus geht es in den horizontal konzipierten, binnendramaturgisch aber in sich abgeschlossenen Folgen um Herausforderungen, die auch zur RTL-Serie passen würden: Die hochbegabte Muslimin Ada (Amira Demirkiran) hat zum Entsetzen ihres Vaters (Omar El-Saeidi) die Leidenschaft fürs Kickboxen entdeckt, die schöne Luna (Marlene Burow) bezahlt ihren Traum von einer Modelkarriere mit Bulimie, Florians große Liebe Hanna (Rosmarie Röse) will die Welt retten und startet ständig neue Aktionen für den Klimaschutz. Die große Präsenz der Jugendlichen hat maßgeblichen Anteil daran, dass der Krebs nicht nur in Fritzies Kopf in den Hintergrund rückt. Aber natürlich bleibt er dennoch präsent, in ihrer Brust wie auch dramaturgisch, weshalb sie eine emotionale Achterbahn erlebt: Mal ist sie kämpferisch, mal fatalistisch. Als eine Freundin (Katharina Spiering) stirbt, die zehn Jahre lang vergeblich gegen den Krebs gekämpft und vor lauter Operationen und Chemotherapien keine Zeit mehr zum Leben gefunden hat, trifft Fritzie eine folgenschwere Entscheidung.
Soundtrack:
(1) Mads Langer („Eyes Closed“), Nick Waterhouse feat. Leon Bridges („Katchi”), Soap&Skin („What A Wonderful World”)
(2) Portugal. The Man („Feel It Still”), Soap&Skin („Safe With Me”)
(3) Billie Eilish („Ilomilo”), 8-Ball („Hands In The Air”), José González („Heartbeats”)
(4) Sting („Fragile”), T-Rex („Get It On”)
(5) C2C („Down The Road”), Eva Cassidy („What A Wonderful World”), Billy Josel („She’s Always A Woman”), The XX („Angels”)
(6) System Of A Down („Toxicity”)
Tanja Wedhorn darf schon als Star der ARD-Freitagsfilmreihe „Praxis mit Meerblick“ ein großes Spektrum spielen, aber die Drehbücher zur ZDF-Serie müssen ihr wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen sein. Sie hat maßgeblichen Anteil daran, dass die Geschichte nicht in Trübsinn versinkt, weil sie dafür sorgt, dass das nicht immer logische Verhalten der Titelheldin jederzeit nachvollziehbar bleibt. Außerdem ist Fritzie eine Lehrerin zum Verlieben, die mit großem Herzen und viel Verständnis für die Schülerinnen und Schüler nach Lösungen für die Probleme ihre Schutzbefohlenen sucht. Die sind nicht so schicksalsträchtig wie ihre Krankheit, aber ebenfalls nicht lustig; und dennoch ist die Serie komisch. Dafür sorgen zum Beispiel die sarkastischen Kommentare des altklugen jungen Kollegen Büschel (Jan Pohl), der auf irritierende Weise an den CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor erinnert.
Eine weitere Parallele zu „Der Lehrer“ ist die dramaturgische Bedeutung der zweiten großen Rolle: In der RTL-Serie ist der beste Freund der Titelfigur gleichzeitig auch Vorgesetzter und Gegenspieler. Optisch ist Selma, Fritzies beste Freundin seit gemeinsamen Studientagen und außerdem ihre Chefin, sogar die markanteste Figur der Serie, weil Neda Rahmanian die Frau als garantiert eleganteste Schulrektorin Berlins verkörpert. Ähnlich wie Ehemann Stefan reagiert auch Selma auf die Krebsnachricht mit größerer Betroffenheit als die Freundin. Weil Fritzie aber meistens so tut, als wäre nichts passiert, werden die Gespräche der beiden von beruflichen Themen dominiert. Fritzies immer unberechenbareres Verhalten wird allerdings zu einer echten Belastungsprobe für die Beziehung, weshalb die Serie auch eine Hommage an die Freundschaft ist.
„Jeder denkt, die schlimmen Dinge passieren nur den anderen“, stellt Fritzie mal fest; aber irgendwann macht jeder Erwachsene die Erfahrung, dass das ein Trugschluss ist. Die eigentliche Qualität der Serie ist daher das Kunststück, einerseits zu vermitteln, dass eine Krebsdiagnose alles ändert, und zwar auch für Freunde und Familie, aber das potenziell tragische Thema andererseits dennoch unterhaltsam zu verpacken. Basis dafür sind die einfallsreichen und gern mit Überraschungen aufwartenden Drehbücher sowie die zum Teil recht flotten Dialogduelle; der Schluss mit Fritzies Absturz ins Leben ist ohnehin ein kleiner Knüller. Der Rest ist Handwerk, aber auch in dieser Hinsicht ragt „Fritzie“ weit über den Durchschnitt hinaus. Die Kompositionen des ohnehin vorzüglichen Duo Biber Gullatz und Andreas Schäfer (hier verstärkt durch Moritz Freise) sorgen für ein vorwiegend heiteres Vorzeichen und verzichten darauf, die potenzielle Tragik des Stoffs auch noch durch entsprechende Musik zu betonen.
Das Ensemble ist ausnahmslos ausgezeichnet, gerade die Jugendlichen spielen bemerkenswert gut. Selbst kleinste Nebenrollen sind mit Schauspielern besetzt, die anderswo Hauptdarsteller sind, darunter Victoria Sordo als Stefans attraktive Chefin. Max Urlacher hat als Heilpraktiker Wotan nur eine winzige Szene, die aber nicht zuletzt wegen des Eigenlobs „Man nennt mich auch den Krebsversteher“ in Erinnerung bleibt. Außerdem haben Regisseur Josh Broecker und Kameramann Oliver-Maximilian Kraus das Gespräch Wotans mit Fritzie, die nach alternativen Heilmethoden sucht, in ein güldenes Licht getaucht, das wie pure Ironie wirkt. Die stellenweise kunstvolle Bildgestaltung ist nicht nur von großer Sorgfalt, sondern signalisiert wie die Musik heitere Familienunterhaltung. Broecker gehört zu den vielen erfahrenen TV-Regisseuren, die zuverlässig gute Arbeit abliefern (zuletzt unter anderem die Degeto-Reihe „Eltern allein zu Haus“, 2017), aber selten Preise bekommen; das könnte sich mit „Fritzie“ ändern. Das ZDF zeigt die Serie donnerstags in Doppelfolgen. (Text-Stand: 4.9.2020)