Die gern auf Fällen aus seiner Praxis als Strafverteidiger beruhenden Geschichten von Ferdinand von Schirach kreisen in der Regel um die beiden Schlüsselbegriffe Recht und Gerechtigkeit. Seine Helden streben stets danach, ihren Klienten zu ihrem Recht zu verhelfen, und das heißt zumeist, sie vor einer vermeintlichen gerechten Strafe zu bewahren. So beginnt auch die Serie „Glauben“: Eine Frau (Sabrina Reiter) wird beschuldigt, ihren Gatten erschossen zu haben, um die kurz zuvor abgeschlossene Lebensversicherung zu kassieren. Heimtücke und Habgier: Der Fall scheint klar; allerdings entdeckt Richard Schlesinger (Peter Kurth) auf den Tatortfotos ein Detail, das das scheinbar unumstößliche Indiziengebäude in sich zusammenfallen lässt wie ein Kartenhaus.
Die ersten beiden der sieben jeweils gut dreißig Minuten langen Folgen wirken wie einer jener Kurzfilme, wie sie im Rahmen der ebenfalls von Oliver Berben produzierten Reihen „Verbrechen“ (2013) und „Schuld“ (2014-2019) für das ZDF entstanden sind: in sich abgeschlossene Handlungen, in denen es gelungen ist, komplexe juristische Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich ist „Glauben“ jedoch ein Spielfilm in sieben Teilen. Der Auftakt entpuppt sich als Prolog, der vor allem die zentrale Figur einführen soll: Schlesinger galt einmal als bester Strafverteidiger Berlins, hat aber nach dem Tod seiner Frau den Boden unter den Füßen verloren. Brillant ist er immer noch; außerdem ein Trinker und hoch verschuldet. Welcher Art diese Schulden sind, wird nicht näher erläutert, doch sie führen zu einer Begegnung mit einer Frau, die ihm die säumige Zahlung auf schmerzhafte Weise ins Gedächtnis rufen soll. Azra, von Narges Rashidi als mysteriöse Sphinx verkörpert, ist im Grunde die zweite Hauptrolle. Sie beauftragt Schlesinger, der dem Rat eines Richters (Thorsten Merten) gefolgt ist und endlich sein Leben geändert hat – selbst wenn aus dem empfohlenen Hund bloß ein Goldfisch wird –, mit der Verteidigung eines Gastwirts. Der Mann ist einer von über zwei Dutzend Angeklagten, denen vorgeworfen wird, im Keller seines Lokals in dem Provinznest Ottern Sexorgien mit kleinen Kindern gefeiert zu haben.
Foto: RTL / Stephan Rabold
Ferdinand von Schirach hat sich zu der Geschichte durch die sogenannten Wormser Prozesse inspirieren lassen: Mitte der Neunziger ist am Landgericht Mainz über den vermeintlich größten Missbrauchsfall in der Geschichte der Bundesrepublik verhandelt worden. Die weiteren Beschuldigten bleiben in der Serie allerdings komplett außen vor, die Handlung konzentriert sich auf den Wirt (Michael Pink). Zum eigentlichen Prozess kommt es jedoch erst gegen Ende. Zuvor sucht Schlesinger die verschiedenen Beteiligten auf, darunter auch die Kommissarin (Désirée Nosbusch), die dem Juristen offenbart, dass der eifrige junge Staatsanwalt (Sebastian Urzendowsky) die Ermittlungen früh an sich gezogen hat. Seine Anklage basiert praktisch ausschließlich auf den Erkenntnissen einer Frau (Katharina Marie Schubert), die viele Gespräche mit den betroffenen Kindern geführt hat. Ins Rollen gebracht wurde das ganze Verfahren durch einen Kinderarzt (Falk Rockstroh), der überzeugt ist, dass ein kleines Mädchen missbraucht worden ist; die entsprechende Untersuchung bildet die Ouvertüre vor dem Prolog. Als die Assistentin des Arztes am Abend in einem digitalen Netzwerk kundtut, was sie bei der Arbeit erlebt hat, verbreitet sich die Nachricht wie ein digitales Lauffeuer und löst einen Sturm der Entrüstung aus.
Derartige Twitter-Gewitter greift die Serie häufiger auf. Dann wimmelt es auf dem Bildschirm im Nu von Empörungsäußerungen, die sich nicht nur gegen den Angeklagten, sondern auch gegen den Verteidiger richten; und wer wäre als Fels in der Brandung besser geeignet als Peter Kurth. Der Schauspieler, viele Jahre lang dank großer kleiner Filme wie „Herbert“ (Deutscher Filmpreis 2016) oder „Zwischen den Jahren“ (2017) eine Art stiller Star, hat durch die auch international erfolgreiche historische Ausnahmeserie „Babylon Berlin“ (Grimme-Preis 2018) endlich auch außerhalb von Fachkreisen die Anerkennung bekommen, die ihm schon lange gebührt. Ähnlich wie weiland Robert Mitchum eignet sich Kurth seine Rollen derart konsequent an, dass er sie nicht mehr bloß spielt, sondern buchstäblich verkörpert; und in seinem Fall ist das ziemlich viel Körper, den er zu Beginn sehr müde die Treppe hoch schleppt. Trotzdem versieht er seine gern buddhagleich in sich ruhenden Figuren oft mit einer Fragilität, die auch Schlesinger bei aller Misanthropie zum Sympathieträger macht.
Foto: RTL / Stephan Rabold
Unbedingt sehenswert ist „Glauben“ zudem wegen Narges Rashidi. Die in Hessen aufgewachsene gebürtige Iranerin steht schon viel zu lange vor der Kamera, um als Entdeckung zu gelten, hat im hierzulande bislang aber meist nur Nebenfiguren gespielt. Ihre Rolle als elegante Killerin ist mehr als ungewöhnlich, und das nicht nur, weil Azra, die jedes Mal mit einem anderen teuren Auto vorfährt, kurzen und schmerzhaften Prozess zu machen pflegt, wenn Kerle ihr blöd kommen: Sie weiß Dinge, von denen Schlesinger nichts ahnt, und ist ihm dadurch eine unschätzbare Hilfe. In Schwarzweiß gehaltene Andeutungen offenbaren, was sie einst auf die dunkle Seite getrieben hat; und warum der Hammer ihr bevorzugtes Werkzeug ist. Viele weitere kleine Rollen sind ähnlich prägnant besetzt. Einige der entsprechenden Nebenhandlungen wirken wie Exkurse, etwa Schlesingers Besuch einer Kleintierhandlung, wo er sich mit einer zunehmend genervten Verkäuferin (Jasna Fritzi Bauer) auseinandersetzt; sie sorgen dafür, dass die Serie immer wieder kurz aus der Düsternis des Stoffes ausbricht. Dazu zählen auch des Anwalts böse Blicke, die er E-Scootern hinterher wirft, oder sein Ärger über anderen neumodischen Kram wie LED-Glühbirnen oder „Coffee to go“ auf der Terrasse eines Lokals. Selbst Azra sorgt für unerwartete Heiterkeiten, wenn sie dem Anwalt beispielsweise jeglichen Appetit auf eine Bratwurst vermiest.
Die Dialoge, die Schirach nicht nur für seine Hauptfigur geschrieben hat, sind ohnehin famos, zumal Kurth gerade seine Einzeiler mit großer Trockenheit vorträgt. Dank der ausgezeichneten Mitwirkenden klingt auch ein Disput zwischen Schlesinger und der selbsterklärten Kinderschützerin über von Schirachs bevorzugte Themen Schuld, Gerechtigkeit und Moral nicht abstrakt. Neben dem Drehbuch mit seinem fesselnden Finale im Gerichtssaal, in dessen Verlauf sich auf wundersame Weise eins zum anderen fügt, liegt die große Stärke der Serie in Daniel Prochaskas Arbeit mit dem Ensemble. Der langjährige Schnittmeister und Sohn des hierzulande vor allem für die ZDF-Reihe „Spuren des Bösen“ bekannten österreichischen Regisseurs Andreas Prochaska hat die Bildgestaltung erneut Matthias Pötsch anvertraut, der sowohl sein TV-Debüt „Geschenkt“ (2019) wie auch den ORF-Landkrimi „Waidmannsdank“ in schwere, erdige Töne getaucht hat. Für „Glauben“ haben Prochaska und sein Kameramann eine angesichts des Themas überraschend heimelige Bildgestaltung mit warmen Farben gewählt. Die Außenszenen sind in Monschau entstanden, wo auch die ARD-Freitagsreihe „Die Eifelpraxis“ spielt. In den Panoramaaufnahmen wirkt der Ort wie ein putziges Städtchen in einer Modellbaulandschaft: eine völlig normale Kleinstadt mit völlig normalen Menschen, wie die Polizistin dem Anwalt versichert. Optisch eindrucksvoll aufgelöst ist auch der Rundgang durch ein virtuelles Kriminalmuseum, bei dem Schlesinger einer Journalistin (Sheri Hagen) anhand eines authentischen Falls klarmacht, warum sich Ermittlungen in eine fatale Richtung entwickeln können, wenn am Beginn einer Kausalkette eine Fehleinschätzung steht. Seine Schlussfolgerung ist auch eine Botschaft an die Nutzerinnen und Nutzer digitaler Netzwerke: „Wahrheit ist nicht Mehrheit“. „Glauben“ startet am 4. November bei RTL+ (bisher TV Now) und wird noch sieses Jahr bei Vox zu sehen sein.