Eine riskante Entscheidung

Potthoff, Erdmann, Blendl, Jörg Tensing, Elmar Fischer. Pharmadrama und Denkanstoß

Foto: ZDF / Volker Roloff
Foto Martina Kalweit

Dr. Julia Schemmel hat es geschafft. Mit dem Versprechen, Berner & Braun an die Börse zu bringen, steigt sie als CEO in das Berliner Pharmaunternehmen ein. Alle Hoffnungen der Firma ruhen auf einem neuen Medikament gegen Kinderdemenz. Die ehrgeizigen Pläne, das Mittel zur Marktreife zu bringen, unterliegen der Geheimhaltung – bis ein betroffener Vater von den Studien erfährt und eine Social-Media-Kampagne gegen Berner & Braun startet und Schemmel unterlassene Hilfeleistung vorwirft. Mit den Anfeindungen konfrontiert, verliert die Erfolgsfrau den Halt. Hinzukommt, dass die titelgebenden Entscheidung nicht nur ihre berufliche Zukunft betrifft… „Eine riskante Entscheidung“ (Cinecentrum Berlin) stellt die Positionen in einem moralischem Dilemma gegenüber, ohne vorschnell über Gut und Böse zu urteilen. In einigen Momenten unterstreicht Regisseur Elmar Fischer die ruhige Erzählung mit dramatischen Aus- & Einbrüchen, die in ihrer Zuspitzung über das Ziel hinausschießen.

Ein Idyll am See. Es wurde zum Sommerfest geladen. Stolz und glücklich betrachtet Ehepaar Wagner (Christian Erdmann, Annika Blendl) den Tanz ihrer achtjährigen Tochter Emily (Jasmin Kraze). Bis das Mädchen zusammenbricht. Emily erleidet einen epileptischen Anfall. In der letzten Einstellung des Vorspanns blickt die Kamera (Bjorn Haneld) aus der Aufsicht auf das am Boden liegende Kind und zieht sich dann in große Höhe zurück. Die Einstellung nimmt das Drama der Wagners vorweg. Nach einer Minute Sendezeit ist das Leben einer Familie zerstört und das Undenkbare bricht sich Bahn. Das hat Wucht. Im zweiten Anlauf von „Eine riskante Entscheidung“ – nach dem Vorspann – hat das Undenkbare dann keinen Platz mehr. Dr. Julia Schemmel plant akribisch ihren beruflichen Aufstieg. Der Zusammenschnitt ihrer Bewerbungsprobe und der tatsächlichen Performance vor dem Vorstand der Pharmafirma Berner & Braun endet mit ihrer Gegenfrage an den zweifelnden Mehrheitseigner. „Was soll uns aufhalten?“  Die filmische Antwort gibt der Szenenwechsel. Er führt zurück zu Familie Wagner ins Krankenhaus, wo Emilys Eltern eine niederschmetternde Diagnose erwartet.

Drehbuch (Jörg Tensing) und Szenerie (Anke Osterloh) von „Eine riskante Entscheidung“ pendeln zwischen zwei Polen. Hier die aufgeräumte Welt der oberen Büroetagen und ihrer nüchternen Entscheider, dort das hyggelige Familienidyll im Altbau, das zu zerbrechen droht. Regisseur Elmar Fischer beobachtet in dieser Pendelbewegung, wie zwei Welten aufeinander zu rollen. Mit „Eine riskante Entscheidung“ bleibt Fischer den gesellschaftspolitisch brisanten Themen seiner Vorgängerarbeiten treu. Schon in dem mehrfach und international ausgezeichneten Überwachungsthriller „Unterm Radar“ (2015, mit Christiane Paul) und dem Ärztedrama „Götter in Weiß“ (2017, mit Claudia Michelsen) blickt er hinter die Fassaden hermetisch abgeschirmter, scheinbar unangreifbarer Institutionen, zerrt seine Heldinnen in die Öffentlichkeit und setzt sie enorm unter Druck. Christiane Paul spielte das voller Verve und physischer Präsenz, Claudia Michelsen feinnervig und zurückgenommen.

Eine riskante EntscheidungFoto: ZDF / Volker Roloff
Vielleicht wird jetzt doch noch alles gut: Mittler zwischen den Welten, Felix (Torben Liebrecht), der Mann von Julia (Potthoff).

Lisa Maria Potthoff nun verleiht ihrer Figur eine herbe Note. Dr. Julia Schemmel ist keine, die man lieben muss oder der man automatisch zur Seite springt. Ihr Part ist schwieriger. In dem Drama um ein todkrankes Kind hat sie sich zunächst für Erfolg, Geld und damit für die „falsche“ Seite entschieden. Damit rückt die Figur vom Zuschauer ab, birgt aber gleichzeitig Potential für Entwicklung und Veränderung. In zweiter Reihe stehen die Mittler zwischen den Welten. Zu ihnen gehört – schöne Überraschung – ausgerechnet der Kommunikationschef des Konzerns, der die Ansagen seiner neuen Chefin mit entsprechenden PR-Maßnahmen unterstützen muss, ob ihm das gefällt oder nicht. Schauspieler Tedros Teclebrhan verkörpert diesen loyalen, dabei ehrlichen Herrn Ayuba als einen Funktionsträger und über dessen Funktion hinaus als Mensch. Relativ kleine Rolle, großer Effekt. Die eigentlich Mittler-Rolle übernimmt Torben Liebrecht als Julias Mann Felix. In Habitus und Beruf unterscheidet er sich nicht wesentlich von Emilys Vater. Felix ist Restaurator, Michael Wagner arbeitet als angestellter Architekt. Dem einen gelingt gerade viel, dem anderen nichts. Genauso wie Felix den beruflichen Erfolg seiner Frau Julia feiern kann, zweifelt er doch daran, dass in ihrem Lebensentwurf auch Kinder Platz haben. Hier liegt der eigentliche wunde Punkt der Heldin.

In dieser Konstellation und den Hinweisen auf Julias unerfüllten Kinderwunsch erhöht das Drehbuch mit zwei Zeitsprüngen den Druck. Beruflich muss sich Julia zwischen dem sicheren Börsengang und dem riskanten „compassionate use“, also der Herausgabe des noch nicht marktreifen Medikaments an Emily, entscheiden. Privat steht ihre Beziehung zu Felix auf dem Spiel. Auf dem Ehebett liegt inzwischen nur noch eine Decke. Zwischen dem Taktgeber, der verrinnenden Zeit, die Julia wie den Wagners mit der zunehmend kranken Tochter die Luft nimmt, setzten ruhige Kameraschwenks über das nächtliche Berlin visuelle Zäsuren. Seht her: Da draußen geht das Leben einfach weiter. Und wie sich das für Heldinnen unter Druck gehört: In den dunklen und dunkelsten Stunden ist Julia allein. Etwa, wenn der Mob aufgebrachter Wagner-Unterstützer die bodentiefen Fenster ihrer Stadtvilla mit Farbbeuteln bewirft. Nach diesem Vorfall wechselt ihre Garderobe von cremeweiß zu schwarz.

Neben den dramaturgisch sorgfältig verzahnten Entwicklungen dieser David-gegen-Goliath-Geschichte stören zur Mitte des Films ein paar Übertreibungen. In einer Talkshow, die einen Shitstorm gegen das Pharmaunternehmen beenden soll, sitzen sich Dr. Julia Schemmel und Michael Wagner erstmals vor einer Kamera gegenüber. Gefasste, kalkulierende Blicke treffen auf gerötete, aber wunderbar warme Augen. Und dann unterläuft Schemmel ein Fehler, den sie durch den Blick in die Kamera und die direkte Ansprache des Zuschauers wieder gut machen will. Im Erzählfluss wirkt dieser Moment leider, als schalte man von einem seriösen Drama auf Skandal-Soap um. Ähnlich „over the top“ wirkt die zufällige Begegnung von Julia Schemmel mit der inzwischen halb gelähmten und nahezu blinden Emily kurz nach Aufzeichnung der Show. Wo Blicke genügt hätten, lauscht man einem herzzerreißenden Dialog und dem Schwingen der Moralkeule. Schließlich ist da noch der verzweifelte Versuch von Nicole Wagner (Annika Brendl), mit Gewalt an eine Reserve des Medikaments zu kommen. Ein Hauch von Thrill durchweht diesen Panik-Akt, überzeugend ist er in der Figur der bis dato gefassten Mutter aber nicht angelegt.

Eine riskante EntscheidungFoto: ZDF / Volker Roloff
Nicole (Annika Blendl), die sonst eher gefasste, plötzlich panische Mutter von Emily, will an eine Reserve des Medikaments kommen. Es bleibt eine vergebliche Aktion.

„Eine riskante Entscheidung“ gelingt dort, wo Regie und Dramaturgie ruhig erzählen, den Grundkonflikt nicht aus den Augen verlieren und dabei eine gewisse Distanz zu allen Figuren wahrt. Dem entspricht eine Kameraführung, die konsequent auf Großaufnahmen, Details und Experimente verzichtet. Geschichte, Kämpfe und Gewissenskonflikte der Protagonisten tragen auch ohne emotionale Ausnahmesituationen über 90 Minuten. Der überschaubare Cast, der auf Großeltern oder Freunde als Stützen oder Widersacher verzichtet, konzentriert sich ganz auf Christian Erdmann als emotionalem Zentrum und Lisa Maria Potthoff als Karrierefrau, die an einem Wendepunkt ihres Lebens steht. Ihre Entscheidung transportiert einen problematischen Subtext über das vermeintlich sicherere Glücksversprechen im Leben einer Frau. Vielleicht ist sie aber auch nur ein Innehalten vor dem nächsten Sprung. (Text-Stand: 20.1.2022)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Lisa Maria Potthoff, Christian Erdmann, Annika Blendl, Jasmin Kraze, Torben Liebrecht, Tedros Teclebrhan, Thorsten Merten, Urs Jucker, Michael Sideris, Jens Kipper

Kamera: Bjorn Haneld

Szenenbild: Anke Osterloh

Schnitt: Eva Lopez Echegoyen

Musik: Matthias Beine

Redaktion: Esther Hechenberger (ZDF)

Produktionsfirma: Cinecentrum Berlin

Produktion: Doris Büning

Drehbuch: Jörg Tensing

Regie: Elmar Fischer

Quote: 4,50 Mio. Zuschauer (15,4% MA)

EA: 14.02.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

weitere EA: 21.02.2022 20:15 Uhr | ZDF

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