Und dann sorgt Grimme-Preisträger Christian Zübert, für „Dreiviertelmond“ und zuletzt „Hin & weg“ mehrfach ausgezeichnet, mit einem simplen Kniff dafür, dass sich die vermeintlichen Gewissheiten in Luft auflösen: indem er mitten im Film die Perspektive wechselt. Bis zu diesem Moment ist „Ein Atem“ gewissermaßen ein griechischer Film, denn die Handlung ereignet sich konsequent aus Sicht von Elena; deshalb wird zunächst auch nur griechisch gesprochen. Deutsch kann die junge Frau allerdings auch, sie hat Germanistik studiert. Nicht nur wegen ihrer Zweisprachigkeit ist Hauptdarstellerin Chara Mata Giannatou ein Glücksfall für Zübert und den Film: Die gebürtige Berlinerin hat deutsch-griechische Eltern, kommt frisch von der Schauspielschule, gibt in „Ein Atem“ ihr Filmdebüt: eine echte Entdeckung.
Alles andere hätte auch nicht funktioniert, denn die herrische Gegenspielerin wird immerhin von Jördis Triebel verkörpert, die das zudem unangenehm glaubwürdig macht; bis Zübert den Film aus den Angeln hebt. Nun erzählt er Tessas Geschichte, und die Frau, die bis dahin so arrogant und unnahbar wirkte, erscheint in einem völlig anderen Licht. Auch die scheinbar vorbildliche Beziehung zwischen Tessa und ihrem Mann Jan (Benjamin Sadler) erweist sich als brüchig. Und während Elena das Benehmen ihrer Arbeitgeberin als Gipfel der Ungerechtigkeit empfindet, betrachtet die beruflich gestresste Tessa das Verhalten der Griechin als pure Provokation. Neben der Bildgestaltung durch Ngo The Chau, dessen Handkameraführung die Darbietungen fast wie eine Reportage wirken lassen, ist es vor allem diese dialektische Dramaturgie, die „Ein Atem“ zu einem besonderen Film macht; demnach wäre der erste Teil über Elena die These und der zweite über Tessa die Antithese. Erst die unterschiedlichen Erzählperspektiven sorgen dafür, dass man vorschnell gefällte Urteile revidieren muss. Mit dem Finale, als die Frauen in Athen wieder aufeinander treffen, liefert Zübert die versöhnliche Synthese, die allerdings zumindest Elena einen hohen Preis kostet.
Das klingt nach einem „nur“ intellektuellen Vergnügen, aber davon kann keine Rede sein; schließlich weiß Zübert, dessen erster Film vor 15 Jahren die vergnügliche Kifferkomödie „Lammbock“ war, wie man eine fesselnde Geschichte erzählt. Darüber hinaus ist der Wechsel der Identifikationsfigur sehr reizvoll, denn plötzlich wird Tessa zur Sympathieträgerin, erst recht, als Jan ihr die Schuld an der Entführung gibt: Dazu sei es überhaupt nur gekommen, weil sie unbedingt wieder arbeiten wollte. Auf diese Weise wird aus dem Nord-Süd-Konflikt des ersten Teils unversehens ein Film über Männer- und Frauenrollen in unserer Gesellschaft. Abgesehen davon schafft der Bruch überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass sich die beiden scheinbar völlig unterschiedlichen Frauen als Seelenverwandte entpuppen. So erklärt sich auch der Titel: Das griechische Wort für Atem heißt gleichzeitig Seele.