Wie gelang es jüdischen Frauen und Männern, sich den Deportationen der Nazis zu entziehen und bis zum Kriegsende zu überleben? Der Film „Die Unsichtbaren“ erzählt vier Überlebensgeschichten aus Berlin. Allein in der Hauptstadt seien 7000 Juden untergetaucht, 1500 von ihnen hätten überlebt, heißt es auf Einblendungen zu Beginn und am Ende dieser Kinokoproduktion. Claus Räfle und Alejandra López haben mit zwei Frauen und zwei Männern Interviews geführt und ihre Erinnerungen überdies in Spielszenen inszeniert. Dramatik und Spannung sind bei diesem realen Stoff ja im Übermaß vorhanden: In ständiger Angst vor Entdeckung mussten die Untergetauchten ihren Alltag organisieren, eine Bleibe finden, an Nahrung kommen. Jede Kontrolle, jede zufällige Begegnung mit einem Bekannten konnten Verhaftung und Tod bedeuten. Der Schrecken der Nazizeit ist hier permanent „anwesend“, auch ohne Szenen körperlicher Gewalt. Gleichzeitig erzählt der Film von den Helferinnen und Helfern, von Mitmenschlichkeit und Widerstand – ohne aufgesetztes Helden-Pathos. Das von vier ARD-Sendern (NDR, RBB, BR, WDR) koproduzierte Drama hatte im Oktober 2017 Kino-Premiere. „Kaum ein Film macht mehr Mut zum Widerstand, selten lässt sich dieses Thema spannender gegenüber Teenagern vermitteln. Schade nur, dass er für viele Bundesländer in den Ferien und allemal im Schatten von ,Fack ju Göhte‘ in die Kinos kommt“, schrieb damals Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau. Immerhin 84.000 Zuschauer zahlten dann doch für einen Kino-Abend mit den „Unsichtbaren“.
Foto: NDR / Tobis Film GmbH
Der dokumentarische Anspruch steht im Vordergrund
Räfle und López verzichten auf Experten oder historisch einordnende Kommentare, streuen nur ab und zu dokumentarische Filmschnipsel in Schwarzweiß mit verschiedenen Motiven aus dem Alltagsleben einer Stadt ein. Stattdessen konzentrieren sie sich ganz auf die Erzählungen von Cioma Schönhaus, Ruth Gumpel, geborene Arndt, Eugen Friede und Hanni Lévy, geborene Weißenberg – es sind vier klug ausgewählte Zeitzeugen-Berichte. Die Spielszenen wirken hin und wieder wie gespielte Zitate, bisweilen wiederholen die Schauspieler Sätze, die zuvor ihre realen Vorbilder im Interview gesprochen haben. Der dokumentarische Anspruch steht offenkundig im Vordergrund, nicht die freie, künstlerische Interpretation. Und Alice Dwyer als Hanni Weißenberg, Max Mauff als Cioma Schönhaus, Ruby O. Fee als Ruth Arndt und Aaron Altaras als Eugen Friede agieren behutsam und zurückhaltend, als wollten sie ihren realen Vorbildern nicht zu nahe treten. Über reines Reenactment geht die Inszenierung trotzdem hinaus. In den fiktionalen Szenen werden viele Facetten des Lebens in der Illegalität sichtbar und durch die spielerische Darstellung vielleicht auch nachvollziehbarer: die Angst, die Einsamkeit, auch der Übermut, Fröhlichkeit und Erleichterung.
Vier Überlebensgeschichten im beständigen Wechsel
Beispielhaft die Szene, als ein Herr vom Amt für Bombengeschädigte die Wohnung inspizieren will, in der die Familie Arndt Unterschlupf gefunden hat. Ruth und vier weitere Geschwister und Freunde verstecken sich im Schlafzimmer hinter der Tür, dem Bett und im Schrank, während ihre mutige Gastgeberin dem Beamten nur einen kurzen Blick ins Zimmer gönnt. Noch mal gut gegangen – doch das Quartier ist verloren. Immer wieder gibt es solch überraschende Wendungen, müssen neue Lösungen und Verbündete gefunden werden. Und da der Film die vier Geschichten im ständigen Wechsel erzählt, nicht streng chronologisch, aber doch gemeinsam auf das Kriegsende zulaufend, hat der Film Rhythmus und ein ansprechendes Tempo. Auch die Verzahnung von O-Tönen und Spielszenen wird nicht stumpf auf eine einzige Art und Weise versucht. Mal werden Auszüge aus den Interviews wie Cliffhanger eingesetzt, die den nächsten Spannungsbogen ankündigen, mal kommentieren die Überlebenden die gerade gezeigten Spielszenen. Meist sind die Vier im Interview zu sehen, manchmal sind sie nur aus dem Off zu hören. Überflüssig ist es allerdings, dass auch noch die Schauspieler Off-Kommentare ihrer Figuren sprechen – als wären die O-Töne aus den Interviews nicht eindrucksvoll genug.
Foto: NDR / Tobis Film GmbH
Andreas Schmidt in seiner letzten Rolle vor dem Tod
Jede einzelne der vier Biographien wäre wohl einen eigenen Film wert: Cioma Schönhaus ist ein unerschrockener Draufgänger. Während seine Eltern deportiert werden, darf er vorerst bleiben, weil er in einer Waffenfabrik arbeitet. Nach seinem Untertauchen fälscht er Ausweise, führt mit einem Freund sogar einen eigenen Laden, die ein anderer Bekannter offiziell angemietet hat, und kauft sich ein Segelboot. Die Jüdin Stella Goldschlag (Laila Maria Witt), mit der er zur Schule ging, von der man allerdings weiß, dass sie im Auftrag der Nazis Juden aufspürt und denunziert, lädt er auf einen Kaffee ein. Ihn verrät sie nicht, am Ende wird er dennoch steckbrieflich gesucht. Eugen Friede wird von seinen Eltern – sein Stiefvater ist kein Jude, was Eugens Mutter schützt, ihn selbst aber nicht – bei einer kommunistischen Familie untergebracht. Das geht allerdings nicht gut, und so wird der 16-jährige nach zwei Wochen an eine gutbürgerliche Familie mit einer bezaubernden Tochter weitergereicht. Friede sagt im Film, es sei „ein richtig gutes Leben gewesen – für eine kurze Zeit“. Weil in der Nachbarschaft der Verdacht aufkommt, die Familie würde Juden verstecken, muss Eugen bald wieder das Quartier wechseln. Seine nächsten Wohltäter, die Winklers, leben zu viert in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, wo bald die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ gegründet wird, eine Widerstandsgruppe, die Flugblätter druckt und verschickt. Der im September 2017 verstorbene Andreas Schmidt spielt in seiner letzten Rolle den Familienvater Hans Winkler, und Florian Lukas gibt den furchtlosen Werner Scharff, einen Elektriker und jüdischen Widerstandskämpfer. Weitere wichtige Nebenrollen sind zum Beispiel mit Maren Eggert und Robert Hunger-Bühler ebenfalls stark besetzt.
Die Nazi-Zeit ohne Aufmärsche und wehenden Fahnen
Im Fernsehen werden historische Ereignisse mittlerweile häufig als Dokudrama erzählt, und Spielszenen sind längst nicht mehr reines Reenactment mit Laien-Darstellern ohne Dialogtext. Dennoch heben sich die Qualität der Spielszenen und die meist gelungene Verknüpfung von Dokumentation und Fiktion in „Die Unsichtbaren“ vom herkömmlichen Fernseh-Niveau ab. Hier wird die Nazi-Zeit zurückhaltend visualisiert, ohne die üblichen Bilder von Massen-Aufmärschen und wehenden Hakenkreuz-Fahnen. Die Täter bleiben Nebenfiguren, die Aufmerksamkeit gilt den jungen Untergetauchten und ihren Helfern, ihrem Lebensgefühl und den damals einzigartigen Lebensumständen. Die Spielszenen werden nicht einfach „angeklebt“, sondern ergeben nur in Verbindung mit den O-Tönen Sinn. Und manchmal genügt es auch, den Menschen, die das alles tatsächlich erlebt haben, zuzuhören. Zum Beispiel dann, wenn Ruth Arndt davon spricht, dass sich niemand satt essen konnte, „weder wir Untergetauchten noch die anderen, die uns geholfen haben – eine furchtbare Situation“. Ruth Arndts Vater war Arzt in Kreuzberg, die ganze Familie tauchte unter, verteilt auf verschiedene Helfer. Allein auf sich gestellt war dagegen die Waise Hanni Weißenberg. Hanni lässt sich die Haare blond färben und muss erst einmal lernen, sich auf der Straße nicht „geduckt“ zu verhalten, wie sie es als Jüdin lange Zeit tun musste. Schöne Pointe für einen Kinofilm: Das Kino ist ein Rückzugs-Ort, an dem sich die Untergetauchten verhältnismäßig sicher fühlen. Und Hanni findet dort sogar den wohl entscheidenden Kontakt für ihre Rettung.
Foto: NDR / Tobis Film GmbH
Der Film „Die Unsichtbaren“ heimste beim Kinostart überwiegend positive Kritiken ein. Hier einige Auszüge:
„Diese kunstvoll verbundenen Geschichten vierer junger Berliner Juden, die während des Kriegs in der Stadt untertauchten, haben zu einer einzigartigen Form gefunden. Zu Beginn glauben wir die Machart aus dem Fernsehen zu kennen, nach wenigen Minuten stimmt das nicht mehr. In dokumentarischen Porträtaufnahmen erzählen die alten Menschen ihre Geschichten, doch so lebendig sind die Erzählungen, dass wir den Rahmen der Kamera vergessen. Und so ungewöhnlich pointiert, lebensvoll und einfühlsam sind die Spielszenen, die sich an ihnen entzünden. Eigentlich sind es acht Filme, vier Dokumentarfilme und vier Spielfilme, die Jörg Hauschild, einer der besten deutschen Schnittmeister, hier zu einem einzigen verwoben hat.“ (Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau)„Die Doku-Spiel-Mischform des Films ist äußerst ungewöhnlich. Erst fürchtet man das Schlimmste – Holocaust! – tatsächlich gleiten Fakten und Fiktion sinnvoll und oft kaum merklich ineinander. Die inszenierten Passagen machen den Film spannend, was auch deshalb legitim ist, weil das Leben im Untergrund für die Jugendlichen selbst ein großes Abenteuer war.“ (Martina Knoben, Süddeutsche Zeitung)
„Aus den Interviews mit den vier Überlebenden einerseits und den dramatischen, gleichwohl dialogreichen Sequenzen andererseits ist ein packender Film mit opulenten Bildern entstanden, der als Dokumentation gelten kann, aber auch ein gut gemachter Film über den jüdischen und nichtjüdischen Widerstand ist.“ (Heike Linde-Lembke, Jüdische Rundschau)
„Neben dem Lebenswillen seiner vier Protagonisten ist es vor allem auch der Mut von Rettern wie Winkler, den Räfle in seinem historischen Lehrstück hervorhebt. ,Die Unsichtbaren‘ konzentriert sich auf die Retter, nicht auf die Mörder. Dadurch entsteht ein versöhnlicher Grundton, der den Berichten der geretteten Zeitzeugen vor allem am Ende des Films innewohnt – und über den man durchaus streiten kann. Der Mut der wenigen jedoch gehört ebenso wie die Verblendung der Masse zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.“ (Katja Belousova, Die Welt)
„Das Verfahren ist zunächst gewöhnungsbedürftig, denn gerade in diesem historischen Kontext befürchtet man in der Vermischung von Spiel- und Dokumentarfilm eine gewisse Pietätlosigkeit zum Sujet. Aber die Melange geht überraschend gut auf. Die Lebendigkeit, mit der die Zeitzeugen von ihrer Jugend in der Illegalität erzählen, scheint fast bruchlos in die inszenierten Bilder einzufließen.“ (Martin Schwickert, epd film)