Der einzige Schutz vor der Welt sind ihm die Zahlen. Der Mathematiker Martin verbrachte ein halbes Jahr in einer psychiatrischen Einrichtung. Jetzt ist sein Job weg, und auch seine Sozialwohnung in Berlin-Marzahn verliert er. Obdachlos und völlig heruntergekommen schlägt er sich durch den Berliner Winter, er schläft in Abrissbauten zwischen Abfall und Bauschutt, allein der Schnaps hält ihn warm – bis Martin Victor kennenlernt, einen zehnjährigen Waisenjungen aus der Ukraine. Sie verstehen sich nicht, aber sie haben ganz ähnliche Bedürfnisse: überleben, ohne sich anzupassen. Victor zeigt Martin, wie man mit Flaschensammeln genügend Geld verdienen kann. In einem Wald, etwas außerhalb der Stadt, finden die beiden einen notdürftigen Unterschlupf, bevor sie sich eine wohnliche Hütte bauen und der Frühling Vorbote für eine kurze Zeit eines paradiesischen Zustands wird.
Foto: SWR / Kahuuna / Henner Besuch
Ein Psychotiker entdeckt die Wildnis. „Die Summe meiner einzelnen Teile“ erzählt ausschnitthaft aus dem Leben eines aus der Bahn geworfenen, autistisch veranlagten Mathematik-Genies, das in Anbetracht des Jahreszeitenwechsels gesundet und immer klarsichtiger wird, bevor ihn die Gesellschaft wieder hineinzieht in den Teufelskreis seiner Krankheit. Oder sind auch seine Glückszustände nur Projektionen? Visionen einer kranken Seele? Vielleicht bildet er sich ja selbst jenen kindlichen Kameraden nur ein. Die Psychologin jedenfalls glaubt, dass Victor nicht existiert, sondern Martin, der mit zehn Jahren seine Mutter verlor, sich nur sein „inneres Kind“ herbeigeträumt habe. Filmemacher Hans Weingartner spielt mit den Möglichkeiten beider Lesarten. Auch wenn es ein Wunschtraum sein könnte, die Momente einer gelebten Utopie sind deutlich und sie brennen sich – gerade weil der Film zunächst 50 Minuten ins farblose Grau des winterlichen Berlins getaucht ist – umso nachdrücklicher in die Netzhaut des Zuschauers ein. Der Befreiungsakt wird nach rund 70 Minuten in eine eindrucksvolle Sequenz gebannt. Der Held rennt durch den Wald, halbnackt, euphorisiert, überglücklich – er scheint eins zu werden mit der Natur. Und später sagt er strahlend: „Angst ist nicht notwendig, sie ist überflüssig. Man braucht sie nicht.“
Romantischer Mythos? Ernsthafte Utopie? Naiver Naturmystizismus? Was diese kleine Kinokoproduktion ist, die 2012 nur kurz in wenigen Kinos lief, das liegt ganz im Auge des Betrachters. Eindeutig ist bei „Die Summe meiner einzelnen Teile“ nur eines: der große Mut, diesen ewigen Traum des Menschen sympathisch blauäugig noch einmal zu erzählen, kombiniert mit Weingartners Lieblingsthemenfeld, Psychiatrie und Gesellschaft. Der Film erzählt pur von dem, von dem er erzählen will: von der visionären Kraft der Natur. Er ist in seiner Einfachheit und Klarheit geradezu radikal. Das ist nicht jedermanns Sache. Und es ist nicht so psychodramatisch sexy wie Weingartners „Das weiße Rauschen“ oder so politisch visionär wie „Die fetten Jahre sind vorbei“. Trotzdem oder gerade deshalb ist dieser Film ein außergewöhnliches Projekt. Zu seinem Gelingen trägt maßgeblich sein Hauptdarsteller bei: Peter Schneider, viel beachteter Theaterschauspieler, der zuletzt auch mit einigen TV-Rollen in „Jedes Jahr im Juni“ oder im „Tatort“ zu überzeugen wusste. (Text-Stand: 25.2.2014)